Von Bogotá nach Medellín (Kolumbien/Dezember 2012)

Hundebiss – erneute Krankenhausodyssee

Endlich, endlich – können wir Bogotá nach über fünf Wochen verlassen. Hardy hat nach seinem Unfall acht Physiotherapieeinheiten absolviert, extra Tipps bekommen und ist nun soweit fit, dass er seinen Arm wieder belasten kann.

Alles ist gepackt, letzte Fotos werden geschossen und los geht’s. Es fühlt sich an, wie ein Neubeginn, als wir den Hang aus San Luís hinab in die Stadt brausen. Einmal müssen wir quer durch Bogotá, um Honda erreichen zu können.

Bogotá hat viele Radwege und wird nicht umsonst als die Radelhauptstadt Südamerikas bezeichnet. Wir haben es beinahe geschafft, sind fast draußen aus dieser immensen Stadt und radeln vergnügt durch ein Stadtgebiet, dass uns an Berlin-Hellersdorf erinnert, als auf einem Radweg am Kanal eine Meute von fünf übellaunig kläffenden Hunden angerannt kommt. Kennen wir ja eigentlich schon. Diese Bestien verfolgen uns lauthals. Aber dass dann tatsächlich eines und auch noch das größte und fieseste dieser Mistviecher in meinen Unterschenkel beißt, damit hätte ich nicht gerechnet. Ich bemerke es anfangs auch gar nicht. Sehe es nur zufällig, als ich hinunter schaue und merke, dass da ja ’ne Bisswunde ist und mich dieser Terrorstressköter immer noch mit seiner Schnauze recht nah, zähnefletschend an meinem Bein verfolgt. Ich bekomme Panik, trete ihm ins Gesicht, schreie laut und fahre so schnell es eben geht. Warum auch immer verschwindet die Meute. Wahrscheinlich sind wir einfach nur aus ihrem Revier raus.

Ich setze mich erst mal auf eine Bank, um die Wunde in Augenschein zu nehmen. Wir desinfizieren sie. Der Biss ist zum Glück nicht groß. Aber wir können den Abdruck der beiden Eckzähne tief in meinem Fleisch sehen. Eher größer ist der Schock. Zu doof, da habe ich im Laufe unsere Reise meine Angst vor Hunden so etwa überwunden, bin selbstbewusster geworden und da passiert so was. Das schlägt mich ganz schön zurück.

Uns ist schnell klar, dass wir Bogotá heute doch nicht verlassen werden – tja wäre auch zu schön gewesen! Um auf Nummer sicher zu gehen, will ich gegen Tollwut geimpft werden. Bei einer so aggressiven Straßntöle weiß man ja nie.

Natürlich musste das Ganze ja in schönster Gegend passieren. Uns umgeben jetzt schiefe Hütten, aus Brettern gebaut. Aus den Türspalten luken Gesichter hervor. Wir sehen all die großen Holzhandkarren, mit denen Männer durch die Straßen Bogotas ziehen, um Müll zu sammeln. Hier wohnen sie also.

Schnell kommen zwei Männer an. Sie fragen, was passiert sei und erzählen, dass hier in letzter Zeit bereits drei Kinder von Hunden gebissen wurden. Ein anderer Mann führt uns zu einem nahen Gesundheitszentrum. Dort wird nicht geimpft, wir müssen zum Krankenhaus gehen. So radeln wir ein paar Blocks weiter und landen beim Hospital de Engativo. Die in der Notaufnahme schicken mich weg, zum Impfzentrum. Die Schwester an der Rezeption wundert sich, dass meine Wunde noch nicht behandelt wurde, kann mir aber auch nicht helfen, da die Frau, die für die Impfungen zuständig ist, frühestens um zwei Uhr nachmittags wieder kommen wird. Jetzt haben wir es elf.

Wir rufen bei unseren Freunden Juan Carlos und Carolina an, die in Bogotás Zentrum in Palermo wohnen und überfallen sie mit der Bitte um Unterkunft für diese Nacht. Dabei haben wir ein schlechtes Gewissen und fühlen uns mies. Wir wissen, dass die beiden, insbesondere Carolina, gern allein ist und ihr Zweisamkeits-Ehedasein führt. Wir würden da eher mit unserer Anwesenheit stören. Natürlich können wir kommen, versichert uns Juan Carlos besorgt und zu unserer Erleichterung am Telefon. So treten wir nochmal rund 1 1/2 Stunden zurück in Richtung Stadtmitte und schaffen heute ganze 32 bogotanische Kilometer.

Bei Carolina angekommen, bringen wir die Bikes und das Gepäck hoch in ihre Wohnung und laufen schnell in die nahe Klinik Palermo. Diese kennen wir schon von Hardys Unfallbetreuung. Sie hat bei uns einen guten Eindruck hinterlassen. Nun sitzen wir also auch einmal wegen mir im Wartezimmer. An Krankenhausaufenthalten in dieser Reise steht es jetzt 3:1.

Recht fix wird meine Wunde gewaschen und ich bekomme eine Impfung gegen Tetanus sowie ein Antibiotikum verschrieben. Meinen Impfausweis will niemand sehen. Gegen Tollwut kann mich hier auch nicht impfen, da das nur in staatlichen Einrichtungen und nicht in privaten Kliniken gehe. Ein Hundebiss von einem Straßenköter sei ein Anliegen der öffentlichen Gesundheit und müsse dokumentiert werden, wird mir vom Arzt versichert. Er verweist uns an ein öffentliches Krankenhaus, dem Hospital Chapinero.

Wir düsen mit dem Taxi hin, denn mittlerweile ist es später Nachmittag und kommen tatsächlich eine halbe Stunde zu spät. Die Öffnungszeiten der Impfpraxis sind überschritten, der Raum ist abgeschlossen. Niemand ist gewillt uns zu helfen, denn hier hält man sich stur an Regeln und Obrigkeit. Keiner versteht den Stress, den wir machen, damit ich heute noch geimpft werden kann. Wir sollen doch morgen früh in den normalen Öffnungszeiten wieder kommen. Ein herbeigerufener Arzt versichert uns, dass ich nach einem Biss 24 bis 48 Stunden Zeit zum Impfen hätte. Wir fahren geknickt zurück zu Carolina und Juan Carlos.

Am folgenden Morgen fahren wir früh um acht Uhr zurück zur Klinik Chapinero. Im heruntergekommenen Impfraum erklärt uns die Krankenschwester, dass ja alles schön und gut sei und ich auch theoretisch geimpft werden könnte. Da aber das nötige Papier vom Arzt von gestern fehle, welches besagt, dass ich in den verschiedenen Dosen an verschiedenen Daten gegen Tollwut geimpft werden muss, würde hier gar nichts gehen. Denn ohne dieses Papier dürfe sie nichts tun. Der gestrige Arzt hatte diesen Wisch einfach nicht ausgestellt.

So fahren wir ins nächste Krankenhaus. Im Hospital San José gehen wir in die Notaufnahme, erklären der jungen Ärztin den Sachverhalt und meinen das Problem sei nur der Papierkram. Sie stimmt uns zu, meint aber, dass ich aufgrund meiner Vorimpfung gegen Tollwut in Deutschland gar keine weitere Impfung mehr bräuchte. Wir sind da anderer Meinung. Sie geht eine Spezialistin fragen und kommt mit deren Impforder wieder. Gut, wir gehen also nach nebenan zur Impfstation.

Die Krankenschwester dort ist sehr nett und für uns die kompetenteste Ansprechpartnerin bisher. Sie füllt ein neues Formblatt aus, bestimmt inzwischen das Fünfte. Außerdem gibt sie uns ein Schreiben mit auf den Weg, welches besagt, dass ich in gewissen Abständen insgesamt fünf Mal in weiteren Dosen gegen Tollwut geimpft werden muss. Endlich.

Nach einem späteren Telefonat mit einem Tollwutspezialisten in Österreich, dem wir meine Impfgeschichte und den Biss erzählen, stell sich heraus zum Glück, dass ich aufgrund der vorherigen Tollwutimpfungen nur zwei weitere Impfungen statt den Fünfen benötige.

Aber jetzt hier im Krankenhaus kann ich auch nicht geimpft werden, denn die besagte Mitarbeiterin ist im Außendienst um Babys zu piksen.

Wir gehen noch einmal um eine Ecke in eine UPA, wohl eine Impfstation. Und Tatsache, endlich ist es möglich mich zu impfen! Das geschieht auch recht professionell und ich bekomme volle zwei Stunden vor Ablauf der 24 Stundenfrist meine erste Tollwutspritze. Was für ein hin und her!

Erleichtert über unseren späten Erfolg kehren wir zu Juan und Carolina zurück und bleiben eine weitere Nacht, da es zum Losradeln bereits zu spät ist.

Auf nach Honda

Heute kommen wir aber wirklich los und das ohne Komplikationen. Nach 16 km Stadtverkehr ist Bogotá hinter uns gelassen. Diesmal haben wir es über andere Radwege versucht. Wir merken, dass wir aus dem Training sind und treten keuchend die Berge hinauf. “Pura bajada” – “Nur Abfahrten” bis nach Honda, wie uns versichert wurde, das stimmt wohl nicht so ganz. Und obwohl wir uns von Bogotá 2400 Höhenmeter hinab bewegen, gibt es doch die eine oder andere saftige Steigung.

Wir schaffen es an unserem ersten Tag wieder on tour sogar bis nach Villeta und radeln fast 100km. Im netten Örtchen ist die gesamt plaza weihnachtlich geschmückt. Jeder Baum hat ein anderes Design. Weihnachts- und Schneemannfiguren hängen herum. Eine große Krippe mit verschiedenen Strohfiguren beeindruckt uns sehr. Der Pfarrer ist sehr nett, aber leider ist die Kirche aufgrund von Weihnachtsfeierlichkeiten voll. Er verweist uns an den parqueador público. Das ist ein Parkplatz, auf dem gegen Geld Autos bewacht werden. Auch gut, mal was Neues. So schlagen wir unser Zelt am Rand der mülligen Parkfläche auf.

Gleich nach Villeta erwartet uns am Morgen eine 18km lange, ätzende Steigung. Serpentine um Serpentine winden wir uns zusammen mit etlichen LKWs den Berg hinauf. Und dann geht es wirklich nur noch hinab. Bis auf etwa 200 Meter über dem Meeresniveau sausen wir hinunter. Tolle Aussichten auf dem sich im Tal entlang schlängelnden Río Magdalena tun sich auf. Wir radeln an einem der beiden größten Flüsse Kolumbiens entlang.

Honda

Nachdem wir den Fluss Magdalena überquert haben, landen wir am Nachmittag im heißen Honda. Die Stadt ist sehr alt. Sie wurde zu Zeiten gegründet, als Raddampfer den Río entlangfuhren. Momentan scheint sie vom Tourismusboom etwas in Vergessenheit geraten zu sein, erzählt uns Luís, der Besitzer eines sehr schicken alten Hotels. Er spricht deutsch mit uns, hatte einst in Gießen studiert und mag Berlin sehr gern. Die Preise seines Hotels können wir nicht bezahlen. Er bietet uns an in seiner halbfertigen cabaña kostenlos zu übernachten. Die befindet sich etwa 2km außerhalb Hondas am alten Hafen direkt am Sandstrand des Río Magdalena. So ein tolles Angebot nehmen wir doch gern an und fahren mit ihm dorthin.

Die cabaña würde ich eher als ein gigantisch großes Baumhaus in Konstruktion beschreiben. Nebenan in einem alten Haus gibt es eine Dusche sowie ein Klo. Der Nachbar bewacht das Areal und baut die Hütte aus. Luís will das ganze als Hostal mit einer Bar direkt am Fluss ausbauen. Aber für uns, für uns ist es perfekt. Wir bauen unser Moskitoinnenzelt auf der Holzplattform mit Blick auf große Bäume, Bananenpflanzen und natürlich den Fluss auf. Hier oben weht eine frische Brise. Es dämmert bereits, schnell ist geduscht und es wird gekocht. Toll, unglaublich schön ist es hier. Und was am tollsten ist, wir haben das alles für uns. Wir sind allein. Kein Mensch ist hier, wir müssen mit niemandem reden. Das tut doch nach so einem anstrengenden Tag gut.

Nachdem wir am folgenden Morgen nach etlichen Telefonaten erst einmal herausgefunden haben, dass es im Nachbarort La Dorada eine Impfstation gibt, geht es im Bustaxi dorthin. In der Impfstation bekomme ich erstaunlich schnell und komplikationslos meine zweite Tollwutimpfung. So kann es also auch gehen.

Den Rest des Tages verbringen wir mit dem Schlendern durch die alten Gassen Hondas und freuen uns in unsere cabaña zu kommen.

Río Magdalena

Die Straße, die sich mal mehr, mal weniger entfernt am Fluss entlang windet, ist wirklich fast eben. Sie wird vierspurig ausgebaut und ist an den bereits fertigen Stellen ein Vergnügen. Die alten Abschnitte sind dagegen sehr eng. Wir haben Glück, denn heute ist ein bewölkter Tag mit einer leichten Brise. Ansonsten ist es hier in der Tiefebene auf nur 200 Metern über dem Meeresspielgel, welche zu beiden Seiten von Bergzügen umgeben wird unerträglich heiß. So kommen wir gut voran und schrubben Kilometer.

In Doradal schickt uns bei der Schlafplatzsuche der Pfarrer zur Polizeiwache und die auf eine Ranch hinter dem Ort. Dort haben wir Glück und dürfen bleiben. Das Zelt wird auf der Wiese eines Vorgartens von vermieteten Apartments aufgeschlagen. Bis spät in die Nacht sitzen wir zusammen mit dem Verwalter, seiner Freundin und zwei Mietern vor unserem Zelt und werden bei unseren Kochausübungen bestaunt. Da unser vegetarisches Abendessen dem dicklichen Verwalter zu schlaff erscheint, bekommen wir noch vier Eier geschenkt. In einem Apartment bietet er uns auch an zu duschen. Yuppie!

Wir erfahren, dass die Reihenhäuser gleich nebenan dem sogenannten Escobar Barrio angehören. Der Entführer, Lösegelderpresser und Drogenbaron Pablo Escobar (1949-1993) des Medellín-Kartels hatte einst mit seinem Privatvermögen aus dem Drogengeschäft diesen Bezirk errichtet, um armen Leuten eine Dach über dem Kopf zu bauen. Auch heute noch sind viele arme Menschen ihm dankbar für seine Almosen und er erfreut sich großer Beliebtheit in dieser Gegend.

Im Allgemeinen ist Pablo Escobar unter den Kolumbianern eher positiv als negativ behaftet. Er ist so etwas wie ein Volksheld. Wir hören einmal einen Jungen fragen, als er die Silhouette von Che Guevara auf einem Motorrad sieht, ob dieser Escobar sei. Die lustige Antwort lautet: „So ähnlich, nur von der anderen Seite.“

Die einstige Villa Escobars, die Hacienda Napoles, liegt ganz in der Nähe. Berühmt ist das Feriendomizil und Privatkönigreich für wilde und brutale fiestas. Übernachtungsmöglichkeiten für über 100 Gäste, eine Stierkampfarena und diverse Pools bildeten eine Bühne des kranken Schauspiels in denen sich unterwerfende Gäste einer komplett Rasur unterzogen oder nackt um die Wette auf Bäume kletterten. Schönheitsköniginnen zogen sich aus und nicht Loyale wurden öffentlich hingerichtet. Nach ihrer Blütezeit ist die Villa, die sogar einen eigenen Zoo beherbergte, verfallen und überwuchert. Nur die Nilpferdpopulation hatte als einzige der vielen exotischen Tierarten überlebt und sich auf über 25 Exemplare hinauf gearbeitet, so hören wir. Heute ist der Ort ein Freizeitpark, unser Verwalter verkauft dort Eintrittskarten und empfiehlt uns begeistert einen Besuch.

Ab Río Claro beginnt die saftige Steigung nach Medellín, die uns eineinhalb Tage schwitzen lässt. Am Straßenrad werden Bohnen in der Sonne auf Plastikplanen getrocknet. Schläuche, aus denen unablässig Wasser fließt preisen Autowäschereien an. Große LKWs parken auf Schotterflächen und werden fleißig von Männern gewaschen. Wenn keine Kunde da ist, planschen Kinder im Wasser, das aus den Schläuchen spritzt.

Auf dem langen Abschnitt zwischen der Kreuzung nach San Luis und Sanctuario erstellen wir unseren neuen Rekord in Sachen auf dem Sattel sitzen. An diesem Tag verbringen wir 7:36 Stunden tretend auf den Rädern, während wir uns recht anstrengend die Berge Serpentine um Serpentine hinaufarbeiten. Abends muss ein Hotel her, wir fallen wie ein Stein ins Bett.

Medellín

Nach Guarne erwartet uns endlich die ersehnte 20km lange Abfahrt hinunter nach Medellín. Wir sehen die Großstadt bereits sich zu unseren Füssen im Tal ausbreiten. Wie Zungen lecken sich Viertel an den Berghängen hinauf.

Nach ätzendem Stadtverkehr machen wir eine Pause auf der Plaza Botero vor dem Museo de Antioquia. Ganze 23 große, dicke Monumentalstatuen des berühmten Bildhauers Fernando Botero rühmen den Platz. Touristen lassen sich fotografieren, Verkäufer sind unterwegs aber auch viele, viele komische Gestalten. In solch einer geballten unangenehmen sowie stinkenden Fülle ist dies uns in Bogotá nicht aufgefallen. Viele Menschen hängen betrunken oder aus Tüten nach Kleber schniefend auf dem Platz herum oder schlafen auf der Straße. Hier ist es wärmer als im kalten Bogotá, hier ist das auf der Straßeleben eher möglich, denken wir.

Casa de Ciclistas in San Antonio de Prado

Um zur casa de ciclistas zu gelangen schrubben wir weitere 20km, passieren Itagui und biegen wieder in die Berge ab. Wir müssen nach San Antonio de Prado gelangen, was ganz oben liegt und noch ganz weit entfernt, wie uns kopfschüttelnd versichert wird. Es wird bereits dunkel. Weiterhin windet sich die Straße bergauf. Kleinbusse schieben sich an uns vorbei. Wir halten andauernd an und fragen nach dem Weg. Da kommt ein anderer Fahrradfahrer und fragt uns, ob wir zu Manuel oder dem Radladen ciclocampeón wollen. Ja klar wollen wir! So fährt er voran und zeigt uns den beschwerlichen Weg.

Endlich in San Antonio de Prado angekommen, sind wir total erschöpft und nassgeschwitzt. Herzlich begrüßt uns Manuel, der zusammen mit seiner Frau Martha einen Fahrradladen im Ort betreibt. Hier herrscht in diesen Tagen kurz vor Weihnachten Hochbetrieb, denn alle wollen ihren Kindern ein Rad schenken. Das meistverkaufte Modell ist das billige rosarote Prinzessinenrad. Manuel und Martha sowie deren 15-jaehrige Tochter Manuela arbeiten momentan zusammen mit ihren Mitarbeitern rund um die Uhr von 7 Uhr morgens bis 10 Uhr Nachts.

Zur Zeit sind zwei weitere Gäste zu Besuch. Adrian und Matt stiegen einst vom Fahrrad aufs Motorrad um. Mit den Beiden teilen wir uns die casa de ciclistas. Das ist in diesem Fall ein unaufgeräumter Schuppen mit Hängeboden. Fahrräder stehen und hängen herum. Ein richtiges Chaos. Man darf sich jedoch von den eher nicht sehr privaten, vollgestaubten Schlafangelegenheiten abschrecken lassen, denn der Rest ist Oberspitze. Wir dürfen das Haus der Familie mitbenutzen, hängen zusammen ‚rum und essen gemeinsam. Irgendwann, wenn er einmal Zeit hat, will Manuel die casa de ciclistas ausbauen, dann wird es wohl der Mercedes unter den casas. Wir drücken ihm, bzw. allen folgenden Radlern die Daumen.

Wir backen einen Haufen Weihnachtskekse und bringen sie im Fahrradshop vorbei. Dort geht es zu wie im Taubenschlag. Für uns ein undurchsichtiges Chaos. Wir können nicht helfen und stehen eher im Weg herum.

San Antonio de Prado ist hübsch weihnachtlich geschmückt. Auf der plaza hängen Lichtgirlanden in den Bäumen. Aus Reissäcken wurden Girlanden über die Straßen gespannt, die sanft im Wind hin und her wehen. Es gibt eine Tanzshow in knappen, pinken Kostümen auf der Bühne, in der die weiblichen Reize wie in amerikanischen Rapvideos zur Schau gestellt werden. Dann spielt eine kolumbianische Band, es gibt Jonglage.

Am Himmel können wir den Flug von globos beobachten. Das sind Kissen mit einer Kerze drin, die um diese Jahreszeit in die Lüfte geschickt werden. Irgendwann stürzen sie ab. Da viele bereits große Brände in der trockenen Gegend verursacht haben, sind sie eigentlich verboten, aber weiterhin halten die Menschen an dieser Tradition fest.

Zusammen mit Luís und Alex, zwei Freunden unserer Gastgeber, besuchen wir den Stadtbezirk Santa Rita. Bis vor einem Jahr soll es hier sehr gewalttätig zugegangen sein. Luís war noch nie hier im “hueco del miedo, hueco de los gritos” – “dem Loch der Angst, dem Loch der Schreie”, wie es die Töchter Luís nennen. Zum ersten Mal organisiert hier Alex eine Weihnachtsshow für die Kinder. Natürlich wird wieder sexy getanzt, diesmal macht auch ein Junge mit. Jüngere Kinder singen Weihnachtslieder in der engen Gasse. Immer mehr Kinder strömen mit ihren jungen Eltern herbei. Coole Jugendliche schauen von den Balkonen herab.

Hardy und ich fragen uns, ob die Kinder, die so geübt kleine Babys auf den Armen halten nun die Geschwister oder tatsächlich die Eltern sind. Luís erzählt, dass hier nicht selten Mädchen bereits mit 10 oder 12 Jahren schwanger sind. Mit 15 Jahren wird gefeiert, dass ein Mädchen zur Frau wird. Da haben schon viele ein Kind. Bei einem bleibt es selten und so kommt es vor, dass hier in den Armenvierteln eine Familie fünf bis sieben Kinder hat. Auch berichtet er uns, dass in manchen Regionen Kolumbiens Väter ihre pubertierenden Töchter an ältere Männer verkaufen oder gegen Vieh eintauschen. Für uns nicht vorzustellen, scheint dies leider Realität zu ein. Wir schauen in die so jung aussehenden Gesichter der Kinder vor uns, die bereits Kinder haben.

Dann kommt natürlich der Weihnachtsmann und bringt kleine Geschenke vorbei. Das Gedränge ist groß. Jeder erhält Süßigkeiten und ein kleines Plastespielzeug. Die Kinder freuen sich.

Wir fahren zu Luís nach Hause und werden zu einem asado, einem Grillabend, eingeladen. Freunde kommen vorbei, auch Manuel und Martha und unsere anderen Mitbewohner. Viel Fleisch wird von den Töchtern Luís gegrillt, dazu gibt es Kartoffeln und Salat. Stolz zeigen Luís und Alex alle ihre Errungenschaften wie Zelt, Schlafsack oder Kocher, denn sie werden ab Anfang Januar auf Fahrradreise gehen. Sie fliegen nach Patagonien und wollen bis nach Peru hinauf radeln. Vielleicht kreuzen sich unsere Wege. Noch lange wird über ihre bevorstehende Reise und ihr Unvermögen bezüglich des Kochens und Waschens diskutiert, insbesondere von ihren schelmisch lachenden Ehefrauen.

Am Heiligabend gehen wir einkaufen und bereiten ein großes Essen zu. Spät abends um zehn sind dann alle geschafft zu Hause und wir können gemeinsam dinieren.

Ins Stadtzentrum Medellíns fahren wir am 25. Dezember. Leider hat alles, aber wirklich alles geschlossen. Wir sind entsetzt, denn es hängen oder schlafen nur betrunkene, heruntergekommen aussehende Menschen auf den Strassen. Die “normalen” Leute fehlen im Stadtbild, denn sie sind wahrscheinlich alle bei ihren Familie. Es ist kein schönes Bild und stinkt unheimlich nach Urin.

Eine modernes Metronetz, welches 1995 eröffnet wurde, führt 30km quer durch die Stadt. Auf hohen Betonstelzen fährt sie zackig dahin. Es ist sauber im Nahverkehr. Aus Lautsprechern wird mit einer netten Stimme andauernd die cultura del metro wiederholt. So wird einem gesagt, man solle sich nett benehmen, den alten und schwangeren Menschen einen Platz anbieten, den Müll in den Mülleimer werfen und erst aussteigen und danach einsteigen lassen. Wir finden’s sehr lustig.

Wir steigen in eines der beiden metrocable um, eine Seilbahn, die hinauf auf einen Berg oberhalb der Stadt führt. Die Stadt zieht sich die Berge hinauf in den Parque Arvi, einem Erholungsgebiet oberhalb Medellíns.

Zum Glück verändert sich unser Bild des ausgestorbenen Medellíns noch einmal, als wir uns den Fluss ansehen uns das dort über Weihnachten angebrachte Lichtermeer, das Ilumbrado Navideño. Denn jedes Jahr leuchtet die Großstadt in einer anderen thematischen fantasievollen Weihnachtsbeleuchtung. Man sagt für diese Zeit lasse der Glanz die Armut und Probleme vergessen. Im Jahre 2008 wurde ein vorläufiger Rekord aufgestellt, als sagenhafte 14,5 Millionen Glühbirnen erstrahlten.

Es ist wirklich sagenhaft, so etwas habe ich noch nicht gesehen. Die Plätze und Parks sind mit bunten Blumen geschmückt. Figuren stehen herum, mit Lichterketten behangen. Alles wird in blau oder grün angestrahlt. Auf den Plätzen spielen Bands. Natürlich gibt es hier auch meine Lieblings-Plastikbäume, die hier in rot und violett leuchten. Aber der Hammer, das ist die Uferpromenade am Fluss! Auf Lichtpfosten werden Pflanzen und Bäume der verschiedenen Vegetationszonen Kolumbiens dargestellt. Es blitzt und blinkt und ist voll voller Menschen.

Kurz vor Silvester trudeln Karina und Jan in der casa de ciclistas ein. Die Beiden sind gerade auf Weltreise per Fahrrad unterwegs.

Silvester

Zusammen schmieden wir wilde Pläne für unser großes Silvesterdinner. Fondue soll es werden, kombiniert mit vielen Salaten, zum Nachtisch gibt es Kaiserschmarn. Wir gehen einkaufen und verbringen den ganzen Tag in der Küche. Es hat sich gelohnt. Als Martha und Manuel abends heimkehren, ist der Tisch brechend voll. Mit unserem Kocher wird das Öl für das Fondue heiß gemacht. Klappt prima. Wir schlagen uns die Bäuche voll.

Um zwanzig nach elf quetschen wir uns zu acht in den kleinen Jeep Marthas. Manuel setzt sich ans Steuer uns fährt schwungvoll die Berge hinauf, erst auf Schotter, dann auf Pfaden, dann auf Grasland. Wir wollen noch vor zwölf Uhr ein großes Kreuz erreichen, das auf dem Berg über Medellín thront.

Den restlichen Weg laufen wir und haben kurz vor Mitternacht einen tollen Ausblick auf die Lichter unter uns. Und dann ist es soweit, das Feuerwerk geht los. Wir umarmen uns und freuen uns auf ein tolles neues Reisejahr 2013. Auch Hardy wünschen wir alles Gute zu seinem Geburtstag.

Wir fahren wieder zurück, laden in das überfüllte Auto noch drei weitere Passagiere ein und lassen den Abend mit etwas Rum ausklingen. Am ersten Tag des neuen Jahres soll es weitergehen – zusammen mit den beiden Radlern Matt und Susi in Richtung Süden.

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