Von Puerto Barrios nach Chichicastenango (Guatemala / Mai-Juni 2012)

Auf einem kleinen Holzboot mit Außenbordmotor kreuzen wir mit ein paar anderen Fahrgästen in einstündiger Fahrt über den Golf von Honduras nach Puerto Barrios. Wir befinden uns nun wieder in Guatemala. Schnell ist das Einchecken bei der Migration erledigt. Wir bekommen einen Stempel mit einer Aufenthaltsdauer von 90 Tagen für die C4 Länder Guatemala, El Salvador, Honduras und Nicaragua in den Pass gehauen. Na, los geht’s! Drei Monate sind schnell herum, wir haben noch so einiges an Zickzack-Radeln geplant.

Puerto Barrios ist keine schöne, eher hässliche, sehr hektische Stadt. Wir kaufen im Markt sowie im La Despensa Familar ein, der hiesigen Billigsupermarktkette, und verschwinden. Heute werden wir die magischen 15.000 km knacken!
Hügelig geht es voran. Als wir dann auf einem dieser Hügel die 15.000 km erreicht haben, jubeln wir lange laut. Die vorbeirauschenden LKW-Fahrer schauen uns irritiert an. Dann wartet die folgende, saftige Steigung, weiter geht’s.
Am Abend fragen wir bei einer Familie nach einen Plätzchen für unser Zelt. Das sieht folgendermaßen aus: Gegen 16-17 Uhr beschließen wir aufzuhören und rollen langsam an den Häusern vorbei. Wir achten auf die Menschen, die von sich aus winken. Wenn auch Frauen, Kinder oder Kinderwäsche zu sehen ist, nutzen wir die Chance. Wir erzählen woher wir kommen und was wir machen und schwups dürfen wir eintreten. Oftmals werden uns gleich die Wasserstelle und das Klohäuschen gezeigt. Plastikstühle werden oft herbeigetragen, damit wir uns ausruhen können. Es folgt der erste smalltalk, Zeltaufbauen, Räder abladen. Dann holen wir den aufblasbaren Globus heraus, damit wir der Familie zeigen können wo wir herkommen, wo wir uns befinden und wo wir hinradeln werden. Es dient aber auch dazu etwas von uns zu zeigen sowie einen offeneren Kontakt herzustellen, damit die Familie später leichter zu uns kommen kann, um uns Außerirdische bei unseren abgefahrenen Tätigkeiten wie kochen oder Wasser filtern zu beobachten. Und das passiert dann auch genau. Teilweise steht die ganze Familie, plus Freunde, plus Nachbarschaft in einem Kreis um uns herum, bezupft den Stoff des Zeltes und beobachtet jeden einzelnen Handgriff. Ich mache mir einen Spaß daraus und zähle nach. Nicht selten habe ich über 20 Augenpaare gezählt.
Hier lebt in drei Häusern eine Großfamilie zusammen. Vier kleine Kinder gibt es. Als Hardy am Abend kocht, kommen alle herbei. Gern erklärt Hardy unseren Kocher und dass es bei uns üblich ist, das auch die Männer kochen. Eifrig werden weitere Plastikstühle herbeigetragen und extra ein Kabel mit einer Glühbirne herbeigeschafft. Die Kinder werden von der einen jungen Mami so richtig aufgeputscht. Laut kreischend rennen alle herum. Die Attraktion ist eine fette Kröte, die von den Erwachsenen in Richtung der Kinder geworfen wird. Die Kinder schreien.
Es ist mittelmäßig müllig hier. Plastemüll liegt im Garten, volle Kinderwindeln auf dem Boden neben dem Waschtrog, der pila. Und auch hier frage ich mich, warum leben so viele Menschen in ihrem Müll und Ramsch?

Es ist Ananaszeit. Viele windschiefe Holzstände stehen am Straßenrand. Als der kleine Hunger kommt, halten wir bei einer netten Verkäuferin an. Sie schneidet uns die saftige, süße Frucht sogleich auf. Welch‘ Erfrischung!

Río Lindo
Im Ort Río Lindo wird Hardy von einem älteren Amerikaner angequatscht. Er heißt Dave und überführt Boote. Gerade ist er mit einem großen Motorboot Richtung Norden unterwegs. Er ist völlig begeistert ob unserer Reise und sagt: “Kommt, ich lad Euch zum Essen ein und Ihr erzählt mir mehr!“ Gesagt, getan. So sitzen wir bald mit ihm und dem Sohn eines Freundes bei Brunos, einer schicken Marine mit lauter Musik, einem Pool in dem fröhlich laute Amerikanerinnen in den besten Jahren in bunten Badeanzügen dem davor tanzenden Animateur nacheifern. Das Essen schmeckt gut und wir bemühen uns interessante Stories zum Besten zu geben.

Es scheint zu klappen, denn wir bekommen eine Tour im Beiboot zur Marina am gegenüberliegenden Ufer der Bucht im Río Dulce angeboten, in der das große Motorboot vor Anker liegt. Wir bekommen eine Führung durch Aufenthaltsraum, Küche und Schlafkojen. Diese Marina ist echt groß, Bars, Pools und einen Park gibt es. Wir wünschen Dave ein gutes Wetterfenster und radeln weiter.

Neben weiten Ananasfeldern passieren wir Kokosnussplantagen und Papierplantagen. Hügelig ist es. Auf den Feldern weiden Kühe. Die Sonne burnt. Wenige Autos sind unterwegs.

El Estor
Diesmal landen wir im Vorgarten einer Lehrerfamilie. Beide sind in unserem Alter. Sie haben einen kleinen Sohn und wohnen auf dem Grundstück mit ihren Eltern und Angestellten zusammen. Anbei betreiben sie einen kleinen Kiosk, eine tienda. Hier liegt kein Müll herum, das Klo ist sauber und es gibt sogar eine Dusche.

Als wir das Zelt aufbauen, bildet sich auf der anderen Seite des Gartenzaunes eine Menschenansammlung. Erst sind es 8, dann 13 und dann sogar 23 Zuschauer! Eine Mutti trägt sich sogar einen Plastikstuhl herbei. Wir, die Außerirdischen, sind im Dorf gelandet und bauen nun unser Ufo auf. Wenn in Hellersdorf Außerirdische landen würden, wären wir auch schnell zur Stelle. So nehmen wir es gelassen und machen unser Ding, als stünden wir auf einer Bühne im Theater.

Wir wollen in die Berge abbiegen, laut Reiseführer sprechen die Mayas dort kein Spanisch, sondern nur Quiché. In Guatemala sind die meisten indígenas Mayas. Noch immer sprechen sie die Mayasprachen. Spanisch wird als Zweitsprache hinzugelernt, viele sprechen überhaupt kein Spanisch. Im Land werden über 20 verschiedene Varianten der Mayasprachen gesprochen. Menschen, die unterschiedliche Mayasprachen sprechen, können sich nicht unbedingt miteinander verständigen. Von unserem Gastgeber lernt Hardy ein Paar Wörter Quiché. Wir können nun ein wichtiges Wort: „ochoch“, was soviel wie Haus, Hütte oder Zelt bedeutet.
Kurz nachdem wir aufgebrochen sind, überholen uns die beiden Lehrer auf ihrem Motorrad, den kleinen Sohn in die Mitte zwischen ihnen gequetscht. „Ihr seit aber langsam!“, meint er belustigt. Es ist Sonntag, sie fahren in die nahe Stadt, um zu studieren. Sie wollen lernen besser zu lehren.

Eine Bergetappe, die es in sich hat.
Durchs Hinterland Guatemalas auf kleinen Pisten wollen wir über Cahabón, Lanquín, Cobán, Sacapulas und Chichicastenango den Lago Atitlán erreichen. Dieser oftmals sehr schwierige Abschnitt wird uns einiges an Zeit und Energie abverlangen.

Nach El Estor hört schlagartig der Asphalt auf. Hügelig geht’s voran, aber es fährt sich recht gut. Von den vorbeifahrenden Autos werden wir hübsch eingestaubt. Warum habe ich eigentlich gestern meine Haare gewaschen? Nach zwei Stunden harter Arbeit gönnen wir uns die erste Pause, an einem Kiosk und erstehen eine kalte Cola. Auf Schotterpiste vergeht die Zeit wie im Fluge, meint Hardy, es sei wie stundenlang hoch konzentriert Slalom fahren. Da kann ich ihm nur zustimmen.
Dann zweigt eine steinige, sich in die Berge hoch windende Piste ab. Sofort müssen wir runter schalten in den kleinsten Gang. Für mich ist dieser steile Schotter sehr anstrengend, ich schiebe des öfteren, Hardy dagegen weniger. Abschnittsweise schuften wir beide an einem Rad, um es den Hang hinauf zu bekommen. Hardy fasst am Lenker an und ich drücke von hinten. Erst das eine Rad hundert Meter, dann wird es abgestellt, den Hang herunter gelaufen und das zweite folgt sogleich. Bis wir wieder radeln können wiederholt sich diese Tortur einige Male, oft begleitet von diversen starrenden Augenpaaren auf den Feldern arbeitender Bauern oder Mamis, die mit ihren Kindern neben ihren Lehmhäusern herum sitzen.
Wir sehen den sogenannten bajareque, einen traditionellen Mauerbau. Steine, Holzpfähle und Lehm werden verwendet, um die Wände der Häuser zu gestalten. Oftmals gibt es Dächer aus Wellblechplatten, die das traditionelle Stroh oder Ziegeln ersetzen. Diese Gebäude haben meistens nur einen Raum, der minimal eingerichtet ist. In ihm befindet sich auch eine Feuerstelle oder ein Ofen. Die Rauchschwaden quellen häufig aus den Ritzen zwischen Wand und Dach. Oftmals leben drei Generationen auf engem Raum zusammen. Das hat nicht unbedingt etwas mit Zuneigung oder Familiensinn zu tun, sondern hat eher wirtschaftliche Hintergründe.

Auf steilster Piste versuchen wir zu fahren. Steinchen rutschen unter uns weg. Den Lenker haben wir nicht unter Kontrolle, er macht was er will. Noch ein Tritt und noch einer, dann können wir beide nicht mehr und schieben, allein oder wieder zu zweit. Die Sonne burnt obwohl sich über uns dichte Gewitterwolken versammelt haben. Ein Donnern ist zu hören, der erhoffte Regen bleibt leider aus. Hardy wischt sich ununterbrochen mit seinem Schweißtuch die Stirn ab. Mein Shirt ist nass geschwitzt.

Dann taucht in einer Kurve plötzlich ein kleiner Wasserfall auf, dessen kühles Nass an der Felswand herabrinnt. Durch eine Konstruktion halbierter Bambusstäbe fließt das Wasser wie aus einem Hahn auf den Weg. Kalt, erfrischend, toll! Ich könnte den restlichen Tag hier drunter verbringen.

Chulac
In Chulac beschließen wir diesen Tag zu beenden und fragen an einem kleinen Kiosk nach einer Möglichkeit unser Zelt aufzubauen. Wir werden zum Bruder gebracht und dürfen unterm Wellblechunterstand, unter dem sonst das Auto steht, nächtigen. Nur er, also das Familienoberhaupt, spricht Spanisch. Die Anderen, auch die vielen Kinder schauen uns mit großen Augen, Quiché sprechend an. Wir werden als Gringos abgestempelt. Hardy ärgert sich, als er dem Vater lange zu erklären versucht, dass wir gar keine Gringos sein können, da wir ja nicht aus den USA kommen, sondern aus Deutschland und von einem ganz anderen Kontinent. Aber es fruchtet nicht, der Vater scheint gelangweilt und nicht interessiert. Auch als wir den aufblasbaren Globus herausholen scheint er keine Vorstellungen von Ländern oder Kontinenten zu haben. Außer Guatemala und den Vereinigten Staaten ist hier nicht viel mehr bekannt. Aber das ist auch kein Wunder, wenn die Menschen nach der primaria, der Grundschule nach nur sechs Schuljahren keine weitere Bildung mehr erhalten. Leider gehen auch nicht alle Kinder zur Schule, es gibt keine Schulpflicht. Aus ökonomischen Gründen wird der Schulbesuch besonders in den ländlichen Gegenden oftmals vorzeitig beendet. Besonders die Indígenas, die die Hälfte der Bevölkerung stellen, leben in der Regel von weniger als 1$ pro Tag.
Als es des Abends wieder anfängt zu gießen, heben drei Kinder einen Graben neben unserem Zelt aus, damit die Massen abfließen können. Ich freue mich riesig über diese liebe Geste. Mit Lächeln, Hand und Fuß, versuchen wir uns zu verständigen. Als ich feststelle, dass wir neben einem riesigen Benjamini Baum schlafen, bin ich sehr beeindruckt. Die Blätter sind intensiv grün! Wenn ich da an die krüppeligen Zimmerpflanzen bei uns zu Hause denke!

Cahabón
Die Aussichten, einer der Gründe warum wir hier sind, sind unglaublich toll! Der Himmel ist wolkenverhangen. Weltuntergangsstimmung macht sich breit, als wir in die Täler blicken. Diese sind von runden, sowie von schroffen Bergen begrenzt. Tiefe Grün- sowie Brauntöne dominieren das Bild. Bananen- und Ananaspflanzen werden neben Mais angebaut. Hin und wieder riecht es verkokelt an den frisch gerodeten Stellen. Sie machen einen traurigen Eindruck. Wir sehen Asche, angekokelte und umgekippte Bäume.
In der Mehrheit sind die Menschen hier in den Bergen sehr freundlich. Natürlich gibt es auch Ausnahmen. Besonders die jungen Männer, die sich eher wie kleine Jungs aufführen. Sie lachen, kichern und reißen Witze. Ich bin völlig perplex, als ich mit „Hey babe“ und „bitch“ angesprochen werde und habe in der Situation natürlich nicht die richtigen Worte parat.
Auch Hardy passiert bei einem Cola-Stop etwas merkwürdiges. Die rundliche Verkäuferin ist sehr an seinen hellen Haaren interessiert. Ohne zu fragen und ohne jegliche Berührungsängste zupft sie fasziniert an seiner dichten, güldenen Unterarmbehaarung herum. Die persönlichen Distanzen sind hier ganz anders als in Europa, besser gesagt für mich sind sie fast nicht vorhanden.
Wie auch unsere interessierte Verkäuferin tragen die Frauen und Mädchen hier farbenfrohe Trachten. Ein weiter, luftiger Rock, der zwischen den Knien und den Knöcheln aufhört, wird mit einer Kordel an der Hüfte recht eng geschnürt. Darüber kommt ein modernes, enges Top und darüber wird eine durchsichtige Bluse getragen. Diese ist entweder aus modernem Plaste- oder aus richtig dickem Stoff mit vielfältigen Mustern. Sie ist wie ein Klotz geschnitten, nur für die ellenlangen Ärmel geht ein Schlauch ab. Bei den jungen, dünnen Frauen und Kindern sieht das toll aus, bei den älteren, dicklichen Frauen eher kartoffelig, lustig.

Es vergehen geschlagene sieben Stunden Schwerstarbeit, bis wir im eigentlich gar nicht so weit entfernten Cahabón eintreffen. Mucha subida, viele Steigungen – wieder scheiben wir die Räder, zu zweit. So schnell es der Schotter sowie die Steinbrocken zulassen, geht es in die Flusstäler hinab und sogleich schweißtreibend wieder hinauf. Wir sind ganz fertig.
Die letzte, lange Steigung meistern wir zu dritt. Wir haben Gesellschaft von einem Mann auf einem übel quietschendem Fahrrad. Er ist schneller als wir. Am Stadteingang wartet er auf uns und sagt: „Bienvenidos a Cahabón!“ Das ist doch nett!

Im schattigen Park vor der großen Kathedrale erholen wir uns. Leider ist der schweizer Pfarrer Christoph gerade in Brasilien unterwegs. Wir hatten von ihm gelesen und wollten ihn besuchen sowie das hiesige Institut besichtigen, dass er gegründet hat. Auch alle anderen Pfarrer sind in den umliegenden Dörfern unterwegs, wir können also nicht bei ihnen unterkommen. Ein Hotel muss her. Das ist auch schön. Ein Dusche und vor allen Dingen, mal allein sein nach all dem intensiven, nahen Kontakt und dem permanenten Begafftwerden ist es insbesondere für mich eine Wohltat. Einfach mal die Tür hinter mir zu machen.

Lanquín
Kurze 30 Kilometer sind es auf dieser Etappe nach Lanquín „nur“. Wir sind froh, als wir sie geschafft haben und endlich angekommen sind. Die Qualität der Schotterpiste nimmt deutlich ab. Schlimmer geht es immer! Grobe, große, sich bewegende Steinbrocken machen das Fahren sowie das Schieben äußerst schwierig. Hier scheinen mehr Autos unterwegs zu sein. Jegliche Erde ist weggefahren, abgefahrene Steine kommen zu Vorschein. Es ist glatt, die Füße finden nur schwierig Halt. Dazu gesellen sich Schlammpartien, in die die Räder der Trucks tiefe Rillen gedrückt haben. Wenn sie uns mit Sand und Steinen beladen entgegen kommen, ist an ein Abbremsen nicht zu denken. Sie benötigen den Schwung, um am nächsten Hang hinauf zu kommen. Für uns heißt, das Motorengeräusche rechtzeitig zu hören und zwischen der Piste und dem Berghang ein Plätzchen für uns zu finden, um sie passieren zu lassen.

Cobán
Am Morgen besichtigt Hardy noch die Höhlen nahe Lanquín, so kommen wir recht spät los. Es ist bereits unangenehm warm. Die Steigung ist unglaublich! Für die paar 12 Kilometer brauchen geschlagene drei Stunden! Ich bezeichne dies mal als Radwandern, Radschieben und Radzerren. Völlig fertig kommen wir schließlich oben an. Zwei Überraschungen erwarten uns. Ein kleiner Laden steht mit kalten Brausen wie für uns bereit. Das Tollste ist, dass unerwartet früh der Asphalt wieder eintritt. Wir hatten ihn viel später erwartet. Was kann schöner sein?
Bei einer Familie kommen wir diesmal unter ihrem Vordach unter. Nur die ältere Tochter und der Vater sprechen Spanisch. Eine Frauen- und Mädelsrunde versammelt sich um uns herum. Alles wird bestaunt, belächelt, beredet und vorsichtig angefasst. Ein besonderes Highlight für sie sind diesmal die Thermoskanne sowie die Reflektoren an den Bikes. Auch die Tatsache, dass ich in mein Tagebuch schreibe, und dazu noch soviel, findet Interesse. Sie stellen sich die ganze Zeit dicht neben mich und verfolgen jedes Wort. „Hier schreibt man einfach nicht.“ sagen sie.
Diesmal kommt der aufblasbare Globus gut an. Er wandert von Hand zu Hand. Besonders lang betrachtet ihn sich die älteste Tochter. Sie merkt sich sogar wo Guatemala und Deutschland ist und erklärt es den anderen auf Quiché.
Auch hier werden die bunten Trachten getragen. Auf der Straße laufen nun Frauen mit runden Plastikschüsseln, die sie auf dem Kopf balancieren, vorbei. Sie transportieren darin Maiskörner, die sie zur Mahlmaschine bringen. Dort wird daraus eine zähe Masse gemacht, aus welcher die Frauen dann kleine Kugeln zur Tortillafladenproduktion formen. Als die Dämmerung einsetzt und der Verkehr schlagartig aufhört, wird die Straße zum Fußballfeld umfunktioniert.
Als es dazu zu dunkel wird, gesellt sich die gesamte dreizehnköpfige Männerfraktion zu uns unters Vordach. Sie scheinen alle Spanisch zu verstehen. Wieder werden die Bikes begutachtet, diesmal beherzt angefasst und es wird sich posend dagegen gelehnt. Einer will Hardy sein Rad abkaufen, er antwortet, das gehe nicht, denn er brauche es ja noch. Auf die Frage wie viel die Fahrräder gekostet hätten, weichen wir immer mit der Ausrede aus, wir wüssten es nicht, denn es waren Geschenke von unseren Eltern.
Ich finde die Mannschaft irgendwie anstrengend und verziehe mich ins Zelt. Sie sind eh nur an Hardy interessiert und richten alle Fragen an ihn. Und die Männerrunde will so einiges wissen! Belustigt höre ich gemütlich auf der Isomatte liegend zu und muss mich teilweise echt zusammenreißen um nicht laut los zu lachen: Wo wir herkommen? Was es da für Arbeit und zu Essen gibt? Wie lange es von Guatemala City nach Deutschland dauert? Wie wir hergekommen sind? Ob wir in Deutschland waren, als dort die Fußballweltmeisterschaft stattfand? Ob wir ins Stadion gingen und wie viel die Eintrittskarten kosteten? Kann jeder nach Deutschland gehen? Gibt es da Frauen? Wie kann man eine deutsche Frau bekommen? Wo das Geld herkommt? Ob wir englisch reden untereinander? Wann heiratet man in Deutschland und wann bekommen die Frauen Kinder? Wie viel man in Deutschland verdient und wie viele Stunden arbeitet man? Wie teuer sind bei uns Autos? Wer sponsort uns? Was wir machen, wenn wir einen Platten haben? Welche Religion haben wir und ob wir Kinder haben? Wie heißt der Torwart von Barcelona? Ob Hardy eine Schwester habe? Wie kann man die Schwester kennen lernen? Ob der Eine, der obwohl er eine guatemaltekische Frau und Kinder hat, eine Deutsche sucht, Hardy eine Karte für die Schwester mitgeben kann, um sie kennen zu lernen? Hardy antwortet, er könne dies ja gern tun, aber sie habe bereits einen Mann und zwei Kinder. Er meistert die Fragerunde gut und ich bin überrascht der Fortschritte seines Spanisches.
Auch lange, nachdem Hardy ins Zelt gekrochen ist, stehen die Jungs im Dunkeln um unser Zelt herum und unterhalten sich über uns, als ob wir sie nicht verstehen würden. Es scheinen immer mehr Menschen zu werden: Party! Aaaah, da heißt es nur tief durchatmen und einfach ignorieren, schließlich sind wir hier die Exoten und wir haben uns hier ja selbst eingeladen.

Dafür gönnen wir uns am folgenden frühen Nachmittag in Cobán wieder ein Hotelzimmerchen. Das tut richtig gut. Auch beschließen wir nach wenigen Stunden des Radelns hier eine Pause einzulegen. Die Luft ist einfach raus. Den Rest des Tages verbringen wir auf dem Markt und im Hotel mit einem guten Essen. Von den quietsch-bunten auf dem Markt angebotenen Küken kaufen wir keines. Sie sollen maschinell besprüht werden, hören wir. Aufgrund der auffälligen Farben verkaufen sie sich besser. Bei uns gibt es Kartoffeln und Fleisch mit angebratenen Roten Beeten und Zwiebel, zum Nachtisch folgt Vanillepudding.

Sacapulas

Wir bekommen zwei gute Nachrichten: die erwartete 80 km lange Schotterpiste entpuptt sich als nur noch 22 km lang und dazu geht es von 1400 Höhenmetern auf 900 Höhenmeter hinab! Dafür schmerzen nach einer Weile unsere Handgelenke vom vielen Bremsen. Auf sehr abenteuerlicher Piste geht es hinab. Der eigentliche Straßenverlauf wurde vor einigen Jahren von einem Erdrutsch verschüttet, woraufhin ein recht wagemutiger Weg drum herum von den Bauern selbst gebaut wurde. Wir sehen ihn unter uns, als wir auf die steil hinab führende, sich gerade im Neubau befindene neue Schotter-Straße stoßen. Es wird neue Erdrutsche geben, wie sinnvoll ist also diese Art von Strassen-Bau? Während noch eine Planierraupe versucht den Schotter irgendwie in Form zu bekommen, Arbeiter mit schwerem Gerät die umliegenden Erd- und Steinmassen bearbeiten, zieht der Verkehr bereits langsam vorbei. Im Schneckentempo arbeiten wir uns voran, alle Fahrer sind sehr freundlich und geben auf uns acht.
Nachdem wir den Fluss Chixoy überquert haben, rollt dann der Asphalt wieder unter uns. Schroffe Berghänge wechseln sich mit sanften Hügelketten ab. Hier ist es nicht mehr ganz so dicht besiedelt. Auf den Feldern bauen zumeist Männer Mais, Kohl und Kartoffeln an. In der Sonne werden Lehmziegel getrocknet, die hoch aufgestapelt gebrannt werden.

Heute wird uns bei einem Getränkestopp vor einem kleinen Laden von einem eher unsympathischen Vater zu ersten Mal ein Kind angeboten. Ob wir „es“ kaufen wollten! Und das Kind, beziehungsweise der Sohn ist gar nicht mal so jung, etwa vier, fünf Jahre alt. Perplex, verdattert und völlig empört können wir nur „No!“ sagen. Der Vater meint sogar zu ihm: „Dann wirst du in Deutschland leben.“ Was der Junge nur fühlen muss?

Wir landen bei unserer zweiten Lehrerfamilie. Sie sind vom aufblasbaren Globus begeistert und hätten auch gern einen für ihren Unterricht. In der ganzen Schule gibt es nur einen Globus und den muss man sich umständlich im Sekretariat ausleihen. Sie fragen wo wir ihn her haben. Wir berichten, das wir ihn im Internet bestellt haben und er uns dann zugeschickt wurde. Irgendwie können sie das nicht so ganz begreifen. Die beiden sagen über sich selbst, dass sie nicht gut ausgebildet worden sind. Von ihnen wird erwartet, dass sie den Kindern Englisch beibringen, doch haben sie selbst es nie gelernt. Aus Büchern versuchen sie es im Selbsttraining und müssen bei jeder Nachfrage im Wörterbuch nachschlagen.
Der „Gringoismus“ (Hardys Term) wird wieder zum Thema. Aus ihrer Sicht sind wir Gringos, aus unserer Sicht sind wir keine. Hardy bittet um eine Definition des Wortes und erhält folgende Erklärung: Gringos sind Leute mit weißer Hautfarbe, hellen Haaren und anderer Gesichtsform; Menschen, die groß sind und eine andere Kultur haben.

Markt in Chichicastenango
Guatemaltekische Straßen sind tückisch. Steilst geht es auch auf Asphalt voran. Die Busse und Lastwagen arbeiten sich im Schneckentempo empor. Die Straße ist einem Flickenteppich gleich, den viele Löcher zieren. Dazu kommen gemein gefährliche tumulus. Das sind Huckel, in den Dorfein- und Ausfahrten und natürlich bei Abfahrten, die den Verkehr langsam halten sollen. Gerade bei den Abfahrten müssen wir höllisch auf die oft erst spät erkennbaren Dinger aufpassen.

Endlich mal kommen wir gut voran, so dass wir beschließen bis in den späten Nachmittag hinein nach Chichicastenango durchzukloppen.
Ein Radrennen findet statt. Eine lange Auto-Schlange bildet sich, denn die Straße ist von vielen Polizisten gesperrt worden. Wir rollen an die Spitze und fragen, ob wir nicht durch können, schließlich sind wir ja auch Radfahrer. Und wir dürfen! Kein Verkehr für die folgenden 20 km! Wir haben die Piste für uns, denn die fixen Rennradler sausen nur so an uns vorbei. Jubelnd winken wir ihnen sowie dem umstehenden Publikum zu.
Wir haben es geschafft! Für diese Bergetappe von El Estor nach Chichi, wie es Reisende liebevoll nennen, haben wir acht Tage gebraucht, 389 km sind es „nur“ gewesen. Endlich kommen wir in Chichi an, das in einem fruchtbaren Becken liegt, das von der bewaldeten Sierra de Chuacus eingerahmt wird.

Es ist spät, nass und kalt hier in den Bergen auf 2080 m Höhe. Mal wieder sind wir in den Starkregen gekommen. Zur großen Freude gibt es hier im Hotel eine warme, sogar als heiß zu bezeichnende Dusche! Lange stehen Hardy und ich darunter, können uns nicht lösen. Wir können uns nicht mehr erinnern wo wir diesen Luxus das letzte Mal hatten. Eine heiße Schokolade stellt dann das Itüpfelchen dieses Tagesabschlusses dar.

An den Markttatgen zweimal die Woche platzt das Städtchen aus allen Nähten. Hier wird einer der größten und buntesten Märkte des ganzen Landes abgehalten. Darum sind auch wir hier.
Wir verbringen den gesamten Tag auf den engen Gassen des Marktes. Erforschen und bestaunen den Trubel, lassen uns vom Kaufrausch anstecken, handeln, probieren neue Gerichte und müssen wieder und wieder aufdringliche Verkäuferinnen abwimmeln.

Das Beste sind die Menschen. Stunden können wir damit verbringen sie zu betrachten. Die Leute sind hier so klein. Toll ist das, auch im Getümmel kann ich endlich etwas sehen, denn meist bin ich mit meinen 1,60 m immer noch einen Kopf größer als sie. Die Frauen haben tief dunkle Augen und lange schwarze Haare. Ihre Trachten unterscheiden sich von den Gewändern, die wir bisher gesehen haben. Es gibt den corte ein Wickelrock, der aus 7-10 m langem Stoff um den Körper gewickelt wird. Darüber kommt die faja. Das ist ein unheimlich langer, gewebter Gurt, der als Schärpe um die Taille gezurrt wird. Manche cortes sind aufwändig mit bunten Mustern, Blumen oder Vögeln verziert. Frau kann darin Dinge aufbewahren, die andere in die Hosentasche stecken würden. Aufwendige, farbenfrohe Webarbeiten mit vielen Stickereien werden hergestellt. Nicht nur für den Handel, auch für den alltäglichen Gebrauch haben die bunten, traditionellen Gewänder aus Handarbeit einen hohen Stellenwert. Es ist ein identitätsstiftendes Merkmal.

Im nahen Panajachel am Lago de Atitlán wollen wir nach den anstrengenden Bergen ein paar Tage bleiben. Unsere Körper fühlen sich schlapp und ausgelaugt an. Zeit ihnen eine Pause zu gönnen.

Schaut Euch mehr Fotos in der Galerie an.

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