Ein Sturz und seine Folgen (Kolumbien/November-Dezember 2012)

Hoch motiviert brechen wir nach unserer Pause aus dem verschlafenen Ort Villa de Leyva auf. Über Tunja und Sogamoso wollen wir in die Llanos, in den Dschungel hinabfahren. Bevor es soweit ist, müssen wir jedoch erst beschwerlich die vor uns liegende Bergkette überwinden.

Schon kurz nach Villa de Leyva geht es bei strahlendem Sonnenschein zur Sache, 30km bergauf, auf 2800m Höhe. Ich steige sogar mal ab und kontrolliere, ob ich einen Platten habe, so schwer geht es. Hardy lacht, die Pause macht sich bemerkbar. Wir sind die Anstrengung einfach nicht mehr gewohnt.

Bald treffen wir auf einem Rennradler, den Betreiber des örtlichen Fahrradladens, in dem wir gestern noch einige Ersatzteile gekauft hatten. Henry freut sich unsere Räder in Augenschein nehmen zu können. In unserem kurzem Gespräch am Straßenrand unterhalten wir uns über Kolumbien und unsere Routenpläne. Er bekräftigt unsere Entscheidung die Berge zugunsten eines Besuchs der östlichen Tiefebene zu verlassen, um dann später wieder alles hinaufzustrampeln. Ihm liegt es besonders am Herzen, dass wir auch dem Rest der Welt die Kunde verbreiten, dass Kolumbien nicht mehr gefährlich sei, sondern super lindo und dass die Menschen sehr freundlich seien, super bueno. Wir können dies bisher nur bestätigen.

Sogamoso

Zwischen der hektischen Stadt Tunja und Sogamoso gibt es fast durchgängige einen breiten Seitenstreifen. Die Landstraße ist vierspurig ausgebaut. Hügelig schlängelt sich das Terrain dahin. In die Berghängen hineingebaut sehen wir kleine Steinhütten, aus denen es raucht. Davor liegt weißer Staub herum, der von Männern in Säcke geschaufelt wird. Das sind wohl Kalkbrennereien. Ab uns zu sehen wir auch Arbeiter mit Mundschutz…

Auf dem Platz in Sogamoso essen wir zu Mittag. Heute ist Samstag, die plaza ist voller Menschen. Auf einer Bühne wird animierend bei lauter Musik wild vorgetanzt. Die Masse macht es nach.

Wir werden dauernd angestarrt und angequatscht. Ich habe da gerade gar keinen Bock drauf. Ich habe Hunger und will doch nur in Ruhe Essen. Mal sind es die örtlichen Politiker mit ihren kleinen Söhnen, dann ein Radler und ein Makler. Letzterer heißt Edgar. Er wohnt in Sogamoso und gibt uns seine Telefonnummer. Für den Fall, dass wir uns entscheiden sollten heute hier zu bleiben, meint er. Edgar bietet uns sein Grundstück oberhalb des Ortes an. Dort gäbe es Wasser und eine kleine Hütte.

Wir überlegen und nehmen schließlich das Angebot an. Nach einem Mittagessen bei seiner Familie, bei dem seine Frau ganz betrübt ist, da wir das nicht so leckere Hühnchen nicht bis auf die Knochenhaut richtig runterknabbern, fahren wir mit ihm den Hang hinauf. Mensch, ist das schön hier! Einen tollen Blick auf die Stadt hat er da. Lustig pflanzt sich Edgar mit einem Joint in den schiefen Sessel aus dem Sperrmüll in seine Hütte, bestehend aus Brettern und Planen und fühlt sich wie der König über Sogamoso.

Wir bauen das Zelt auf dem schrägen Hanggrundstück auf und betrachten das Tal. Die Pastelltöne des sanften Sonnenuntergangs wechseln über in die Dunkelheit. Es breitet sich ein Lichtmeer aus. Ich sage zu Hardy: „Mensch, genau das ist einer dieser magischen Momente, in denen es sich besonders lohnt diese Reise zu machen.“ Nur das Gebell der dämlichen Hunde nervt.

Berge im Regenwetter

Heute ist Sonntag. So kämpfen sich mit uns diverse Rennradler in den buntesten Rennradkostümen die Steigungen hinauf. Sie sind natürlich viel schneller als wir und sagen mir, die stark hinter Hardy her hinkt, ich solle mich doch mehr anstrengen und mitziehen. Pah, die mit ihren schmalen Reifen und ultraleicht Rädern haben doch keine Ahnung. Aber uns wird auch zugejubelt und ich werde von einem sogar gefragt, ob er ein Foto von mir machen darf.

Es geht 20km hinauf, bis wir am Punkt El Cruzero ankommen. Hier kreuzt sich die Straße. Erstmal fahren wir ein Wenig hinab, um auf einer Wiese mit Blick auf die Laguna de Tota Mittag zu essen. Es ist frisch hier oben.

Und dann geht es weiter, das Bergauffahren wird uns heute wohl nicht mehr loslassen. Langsam arbeiten wir uns in der Region Boyacá voran. Es geht hoch und runter, eine Kurve nach der andern und wieder hoch. Soviel Steigung um eigentlich hinab in den Dschungel zu gelangen, haben wir nicht erwartet. Man darf diesem „es geht nur hinab“ einfach nie Glauben schenken.

An einem Bretterstand am Rande des Weges kaufen wir Lauch und eine Art milder Radieschen. Die wachsen nur hier oben in der Kälte, wird uns berichtet. Schön ist es hier, die Landschaft wird immer karger. Aus den Häusern mit ihren Wänden aus Brettern steigt Rauch empor. Auf Feldern wird gearbeitet. Kühe laufen umher. Tiefe Wolken ziehen heran. Die freundliche Verkäuferin sagt, es wird heute nicht regnen, aber sie behält unrecht. Nach 30km Steigung für heute geht es endlich bergab. Und genau da fängt es an zu schiffen. Wir sind im nichts, keine Hütten, nur super karge Mondlandschaft, ohne jegliche Bäume.

In diesem Moment kann ich meine neue Regenjacke ausprobieren. Und sie hält! Yeah! So wie es sein muss, perlt das Wasser ab und rinnt nicht hinein.

Weiterfahrend blicken wir uns erstaunt in dieser wunderschönen Natur um. Kleine Seen, Felsen und blühende Schopfrosetten in Ockertönen sind auszumachen.

Heute kommen wir nicht recht voran, aber das stört uns nicht. Wir sind beide relaxt und verspüren keine Eile. Die Pause in Villa de Leyva scheint uns gut getan zu haben.

Bei einem kleinen Restaurant trinken wir einen heißen tinto und wärmen uns auf. Hardy kauft etwas Fleisch fürs Abendessen. Wir füllen unsere Flaschen mit Wasser auf und beschließen etwas später das erste Mal in Kolumbien wild zu zelten. Die Straße, auf der fast keine Verkehr ist, führt durch eine Schlucht. Gegenüber fällt die Felswand steil ab. Wir finden einen schmalen Pfad, auf dem es recht anstrengend ist die Räder hochzuwuchten. Mit der Machete macht Hardy Platz fürs Zelt. Es steht schnell und der Kocher wird angeworfen. Wir haben die Benzindüse gegen eine andere ausgetauscht und so funktioniert er schlecht als recht, aber immerhin. Es dauert, aber es gibt schließlich eine warme Mahlzeit! Wir freuen uns sehr mal wieder allein zelten zu können, in der Natur zu schlafen und all die abgefahrenen Pflanzen der Bergwelt um uns herum bewundern zu können. Abends schauen zwei Ziegen vorbei, ansonsten ist es ruhig. Es wird kalt hier, wir verziehen uns schnell in die Schlafsäcke.

Stürzen muss gelernt sein

Die ganze Nacht sowie am folgenden Morgen regnet es in Strömen. Wir bleiben bis zum frühen Vormittag im Zelt, entscheiden uns aber dafür trotz der Nässe weiterzufahren. Wir haben zu wenig Benzin, um einen weiteren Tag zu kochen. Ein kleine Bach fließt anbei, für Wasser wäre gesorgt. Also rein in die Regenklamotten, Zelt abbauen. Nass ist alles, feucht und kalt, nicht besonders angenehm, aber wir ziehen’s durch.

Wir rollen los, ganz vorsichtig. Wenn die Wolken und der Nebel nicht so tief hängen würden, wäre es wunderschön hier. Aber wir können nichts erkennen. Die Berge bleiben hinter einer grauen Masse verborgen. Es regnet immer noch. Ist ganz schön dumm und gefährlich bei dieser nassen Straße zu fahren. Die Kaputzen sind weit ins Gesicht gezogen uns schränken die Sicht schon stark ein. Kaum Autos sind unterwegs.

Zur einen Seite fällt der Hang steil zum tosenden Fluss unter uns ab, zur Anderen wurde die Piste in die Felswand gehauen. Ein Team aus Männern, in gelben Regenjacken gehüllt repariert hier die Straße. Der Belag besteht nur aus aufgeweichtem Lehm und Steinbrocken. Vorsichtig schieben wir uns an dieser Engstelle entlang. Unter einem Zelt aus Planen warten wir lange auf eine Regenpause und fahren dann auf nassem Asphalt weiter.

Und dann passiert es, was passieren muss. In einer Rechtskurve kreuzt Hardy einen kleinen Wasserlauf. Dieser hat Matsch auf die Straße geschwemmt und es ist schmierig. Hardys Fahrrad rutscht weg. Er fällt auf seinen linken Arm, trennt sich vom Fahrrad und kugelt noch eine Weile den Hang hinunter. Der Schreck ist groß. Ich halte vorsichtig hinter ihm an und laufe herbei. Gut, er steht auf den Beinen und beguckt sich. Die Regenhose sowie der Handschuh sind aufgescheuert. Sein Arm tut weh. Das Rad hat den Sturz erstaunlich gut überstanden. Die Plastikbox auf dem Vorderradgepäckträger ist kaputt gegangen. Sie hat die Wucht des Sturzes abgefangen. Hardy setzt sich erst mal ruhig hin und verarbeitet den Schock. Etwas stimmt nun mit seinem Ellenbogen und Handgelenk nicht, das ist uns schnell klar. Zum Glück ist nicht mehr passiert. Wir sind mitten im Nirgendwo. Kein Fahrzeug kommt vorbei. Es regnet.

Als es Hardy wieder besser geht, steig er vorsichtig auf und rollt ganz langsam, den Arm nicht belastend weiter. Es schmerzt sehr er kann links nicht bremsen. Nach 8km taucht ein kleines Hotel am Straßenrand auf. Wir beschließen anzuhalten und aufzuhören. Es regnet schon wieder stark und Hardys Schmerzen nehmen zu. Wir mieten ein Zimmer und beschließen an dieser Stelle die Reise zugunsten eines Arztbesuchs abzubrechen.

Heute ist Feiertag, da fährt kein Bus. Auf seinen Transport in ein Krankenhaus muss Hardy bis morgen warten. Es ist 12 Uhr. Er haut sich ins Bett und schmeißt ein paar Schmerztabletten ein. Der Arm wird mit einem Tuch ruhig gestellt. Ich trage das Gepäck und die Räder hin und her. Baue das nasse Zelt im Hotelwohnzimmer auf und trockne die Sachen. Hardy hat Schmerzen. Er tut mir sehr leid.

Die Familie des Hotels ist freundlich. Sie leihen mir ihre Küche. Im gusseisernen Herd wird extra das Feuer wieder angeworfen. Alle stehen um mich herum, als ich darauf koche und bestaunen, was ich denn merkwürdiges tue. Das ich die Radieschen ins Essen schnibble finden sie sehr lustig. Sie fragen mich welche Tiere und welches Gemüse es in Deutschland gäbe und sind erstaunt, dass es dort auch Kühe und Kartoffeln, Lauch und Zwiebeln gibt. Wir klären dieses Phänomen mit der Begründung, dass es in Deutschland ein ähnlich kühles Klima vorherrsche wie hier.

Krankenhausodyssee in Bogotá

Früh am folgenden Morgen um sechs Uhr stehen wir mit unserem Kram am Straßenrand. Die nette Hotelmami bringt uns noch einen tinto herbei. Bereits der zweite Bus nimmt uns mit. Obwohl es kein Großer ist, passen die Räder erstaunlicherweise in den Kofferraum. Heute ist das Wetter gut, bei Sonnenschein verlassen wir die schöne Berglandschaft. Wir sind beide traurig in dieser nun nicht radeln zu können. Wir verpassen 50 km schönste Abfahrt.

Zurück in Sogamoso entscheiden wir uns in einen weiteren Bus zu steigen, um nach einer vierstündigen Fahrt in der Großstadt Bogotá eine bessere ärztliche Versorgung anstreben zu können. Außerdem haben wir dort schon eine Unterkunft und erwarten auch leider eine größere Geschichte mit Hardys Arm… Vom zentralen Busbahnhof schieben wir eine geschlagene Stunde die Räder durch das Straßengewirr, bis wir in der casa de ciclistas im Viertel Modelia ankommen. Claudio und Angélica hatten wir bereits zuvor über unser kurzfristiges Kommen informiert, es ist kein Problem. Angélica empfiehlt uns die Privatklinik Palermo.

Gegen fünf am Nachmittag sind wir dann endlich im Krankenhaus. Nachdem die Aufnahmeformalitäten geregelt sind und wir Geld vorschießen, wird Hardy behandelt. Der Arm wird geröntgt und per Gips stillgelegt. Es ist bereits 21 Uhr. Ein Orthopäde wird herbeigerufen. Es ist ein sehr netter, ruhiger Arzt mit einem gewaltigen Bauch, der sich sehr viel Zeit für uns nimmt und alles in einem englisch-spanisch Mix erklärt. Doktor Triana ist ein Spezialist, der in diversen medizinischen Clubs der Welt verkehrt und seine vielen Abzeichen am Band seiner Krankenhaus-Schlüsselkarte präsentiert und Vorträge hält. Wir fühlen uns bei ihm in guten Händen. Er ahnt schon, dass es sich bei Hardys Unfall um eine kompliziertere Angelegenheit handelt, will aber noch das Ergebnis einer Computertomografie abwarten.

Und wirklich, Hardy hat eine ungünstige Fraktur im Ellenbogen, die in den folgenden Tagen ambulant operiert werden muss. Ein Teilstück der Gelenkpfanne hat sich nach innen verlagert und muss fixiert werden.

Für uns beginnt nun eine nervenaufreibende Odyssee in dem Versuch die Kommunikation zwischen unserer Auslandskrankenversicherung und der Krankenhausverwaltung herzustellen. Wir wollen und können nicht auf die Schnelle die nun anfallenden Kosten im Voraus bar zahlen. Bei dieser Härteprobe stellt sich unsere Krankenkasse als verlässlich heraus. Leider ist die Verwaltung der Clínica Palermo alles andere als kooperativ. Wir verbringen Stunden und Tage mit hin und her rennen, haben Audienzen mit den verschiedensten Leuten in der Krankenhausleitung sowie dem Finanzwesen, Schreiben zig Emails und Führen ’ne Menge Telefonate, um einen Kontakt zwischen den beiden herzustellen. Noch am Tag der angesetzten Operation kämpfen wir sechs Stunden lang um deren tatsächliche Umsetzung. Noch immer hat die Krankenhausleitung die OP nicht genehmigt. Irgendwann kommt unsere Krankenversicherung auf die glorreiche Idee mit ihrer kolumbianischen Partnerkrankenkasse einen Deal zu machen und denen das geforderte Geld zu überweisen. So erhält Hardy eine Nummer einer kolumbianischen Krankenkasse mit der das Krankenhaus Palermo nun direkt abrechnet. Dann geht alles plötzlich ganz schnell. Das Okay für die anstehende Operation wird gegeben und Hardy kommt mit nur einer Stunde Verspätung unters Messer.

Alles verläuft gut. Hardy hat nun zwei Schrauben im Ellenbogen stecken. In den folgenden drei Wochen soll er den Arm schonen und danach mit Physiotherapie beginnen. Wir werden also ’ne Weile in Bogota bleiben müssen.

Ich denke ernsthaft darüber nach die „Chance“ zu nutzen, um für drei Wochen nach Berlin zu fliegen und einen Besuch bei den Lieben daheim zu machen. Ich habe schon seit Honduras Heimweh und Gedanken daran.

Ich überlege mit gemischten Gefühlen. Einerseits brennt es mich meine Familie und all die Leute wieder treffen zu können und Zeit mit ihnen zu verbringen, andererseits fühle ich mich nicht gut dabei Hardy hier allein zu lassen. In der casa de ciclistas wohnen wir momentan in einem Zimmer ohne Tür im Türrahmen und schlafen mit unseren Isomatten auf dem kalten, harten Fliesenboden direkt vor der Eingangstür. Nicht der beste Ort zum Gesund werden. Zudem steht ein Umzugs Hardys an, denn bald wird die casa geschlossen, da Claudio und Angélica für ein Jahr an die Küste Kolumbiens ziehen werden.

Besuch in Berlin

Für Hardy ist es Ok und ich vertraue auf seine Organisationskunst. Er wird schon was finden. Ich buche also und befinde mich bereits drei Tage später im Flieger über Paris nach Berlin. Was für eine Freude! Welch Aufregung! Ich bin völlig aus dem Häuschen als mich meine Eltern und meinen Bruder vom Flughafen abholen. Toll ist es zu Hause zu sein. Es fühlt sich an wie im Kino. Alles ist so anders in Europa, aber doch vertraut. U-Bahn- und S-Bahnfahren ist echt abgefahren. In Supermärkten könnte ich Stunden verbringen. Überrascht bin ich darüber, dass sich der erwartete Preisschock nicht einstellt. So einige Sachen wie Milch, Schokolade, Tee oder Shampoo sind hier sogar preiswerter als in Kolumbien.

Ich genieße die Zeit mit meiner Familie und mit meinen Freunden in der Kita und unserer WG sehr. Mir war vorher nicht bewusst, wie toll ich doch Berlin finde. Auch ist es wahnsinnig beruhigend und entlastend an einem Ort zu sein, in dem ich mich auskenne und an dem ich weiß, wie der Hase läuft. Ein zu Hause zu haben und an unserem Küchentisch in der WG kaffeetrinkend sich miteinander und vor allem sich mit so vielen verschiedenen Personen auszutauschen genieße ich total.

Die drei Wochen rinnen wie Sand durch meine Finger. Schon naht mein Abflugdatum. Aber es ist auch gut wieder zu fahren. Wäre ich länger geblieben, wäre mir der Abschied immer schwerer gefallen. So ist es eine definierte Zeitspanne gewesen, die ich wie einen Urlaub genossen habe.

Zurück in Bogotá

Hardy holt mich freudestrahlend vom Flughafen ab. Endlich bin ich wieder da, er hat es lang herbeigesehnt. In all der Zeit ist er insgesamt zweimal umgezogen, von Gastgeber zu Gastgeber und immer mit dem kompletten Gepäckberg im Taxi – und mit Gipsarm.

Nun wohnen wir in San Luis auf 2900m, einem Bezirk der am Rande Bogotas an dessen Ostseite bereits in den Bergen liegt. Mit Bussen brauchen wir eine Stunde ins Stadtzentrum. Wir haben ein eigenes Zimmer im Haus von Diana und ihrem Bruder Andrés und dürfen auch Hardys verbleibende Physiotherapiezeit bleiben. Diana und Andrés sind begeitesterte Motoroller-Fans. Es darf nur die Vespa sein. Andrés führt ein Vespa-Shop und erklärt uns begeistert seine Leidenschaft. Beide haben vor mit der Vespa in naher Zukunft eine lange Reise zu unternehmen.

Ich lasse Hardy meinen prall gefüllten Rucksack auspacken. Er freut sich und freut sich. Zum Vorscheinen kommen neben unseren neuen Radtaschen sowie Sattelstützen einen Haufen an Lebensmitteln, der Folge meines wild um mich schlagenden Einkaufes in Netto und Lidl. Unter anderem gibt es Weihnachtssüßigkeiten, Schokolade, Gewürze, Puddingpulver, Rotkohl und Klosmischungen.

Wir schlendern durch die Fußgängerzone, die weihnachtlich beleuchtete Stadt und den Weihnachtsmarkt. Hier gibt es Plastikbäume, die in irrem blauem, rotem oder weissem Licht strahlen. Hardy berichtet mir von seinen mehren Couchsurfing-Bekanntschaften, so auch von den Venezulanern Carolina und Juan-Carlos bei denen er ein paar Tage wohnte. Ihr gemeinsames zufaelliges Thanksgiving-Essen stellte sich als Kartoffeln mit Quark und Bouletten heraus. Wir besuchen sie noch ein paar Mal.

Diese Stadt ist riesig. Ihr Strassengewirr zu durchblicken fällt mir unheimlich schwer. Hardy versteht das System aus calles, carreras, diagonales und transversales nach seinem bisherigen 3-woechigen Aufenthalt relativ gut. Das oeffentliche Verkehrssystem besteht aus Kleinbussen, den busetas und dem transmilenio. Das sind sehr lange Busse, die eigene Haltestellen haben und auf eigenen Spuren fahren. Das transmilenio-Netz umspannt einen Grossteil der Innenstadt. Sie halten nicht an jeder Haltestelle, so dass man flott voran kommt, schafft man es denn hinein zu kommen. In den Stationen, die von mehreren Linien angefahren werden, wartet rund um die Uhr eine Menschentraube. Diejenigen, die es bis an die gläsernen Schiebetueren geschafft haben, sind natuerlich nicht bereit ihren Platz aufzugeben und warten dort bis ihre Linie kommt. Von hinten drängen sich Diejenigen, die in den gerade ankommenden Bus hinein wollen nach vorne. Es ist ein wildes Geschiebe und Geschubse. Natuerlich sind da auch noch die Passagiere, die aus dem transmilenio aussteigen moechten. Eine Kultur des erst Aussteigen- und danach Einsteigenlassen gibt es nicht. Das Chaos ist perfekt.

Die busetas haben dagegen wenig gekennzeichnete Haltestellen, bzw. gar keine. Man winkt sie irgendwo vom Strassenrand heran. Meist halten sie auch, seien sie noch so voll. Diese Kleinbusse werden praktisch gemietet. Der Fahrer muss sie am Ende des Tages geputzt zurueckgeben zurueck in die Firma bringen und den Soll entrichten. Sein Verdienst hängt von der Summe der Passagiere ab, die er transportiert. An manchen Punkten stehen Männer (Selbststaendige) mit Klappbrettern am Strassenrand und notieren sich eifrig Zahlen und Uhrzeiten. Sie geben den Bus-Fahrer durch wann der letzte Kleinbus die Stelle passiert hat. Dem zu Folge weiss der Fahrer, ob er Gas geben muss oder sich Zeit lassen kann, um moeglichst viele Passagiere im folgenden Abschnitt einsammeln zu koennen.

Bogota ist in einem Tal zwischen den Bergen gelegen. Ueber der Stadt hängt oft eine undurchlässige Smogglocke. Der Himmel ist diessig. Mich ueberrascht, dass es so viele Parks gibt. Auch erstaunt mich die grosse Anzahl an Hochhäusern, die eine Ziegelfassade haben. 

Auf den Strassen sind unheimlich viele Leute jeglichen Couleurs unterwegs. Es schwirrt nur so. Besonders in der Stadtmitte, an den wichtigen Plätzen und in der Fussgängerzone ist dann auch die Polizeipräsens sehr hoch.

Die Altstadt, die candelaria, erinnert uns etwas an Friedrichshain. Schiefe, bunt angemalte Häuser umrahmen Plätze und Gassen. Ihre Fassaden sind mit tollen Gaffities verziert, viele haben ein politisches Statement. Auch einige Universitaeten haben sich hier angesiedelt. Junge Leute sitzen schwatzend, Bier trinkend auf Bänken und Stufen. Hier und dort wird jongliert. Dann rueckt die Polizei an und verscheucht die Trinkenden. Als sie anfangen sich Ausweise zeigen zu lassen, verstreut sich die Menge. Der Platz ist leer.

Des nachts sind dann die Strassen Bogotas wie ausgestorben. Auch wir benutzen eines der fast einzig verkehrenden Verkehrsmittel – zur Sicherheit also abends oft ein Taxi. Dies wird uns von vielen Seiten angeraten. Taxifahren ist hier recht guenstig und wir kommen nach etlichen Fahrten zu dem Schluss, dass zum nicht alle Taxifahrer Piraten sind. Nachts stehen wenige Polizisten in kleinen Grueppchen herum. Hier und da koennen wir Prostituierte ausmachen. Die Mehrheit der Leute, die nun unterwegs sind, stellen Muellsammler dar. Diese ziehen ihre grossen, hoelzernen Handkarren hinter sich her. Manchmal wird der auch von einem mageren Pferd gezogen. Auf der Ladefläche befinden sich grosse Säcke mit Muell. Es wird spaeter von Hand getrennt. Die Szenerie wirkt irgendwie unheimlich.

Wir unternehmen einen Tagesausflug ins nahe Zipaquirá, um die Salzkathedrale zu besichtigen. Das ist ein sehr großes Salzbergwerk, indem immer noch abgebaut wird. Ein Teil davon kann gegen einen horrenden Eintrittspreis besichtigt werden. Wir spazieren durch die Gänge und Säle und sind etwas enttäuscht, denn wir hatten riesige Räume mit weißen Salzwänden erwartet. Aber jene sind nur grau, denn das Salz wurde entfernt. In den großen Kammern befinden sich massive Steinkreuze, die in rot, blau und Grüntönen angestrahlt werden. Davon gibt es 14 Stationen. Schon nach dem dritten Kreuz reicht es uns. Dann gibt es den espejo de agua, den Wasserpiegel, ein Pool, indem sich die steinerne Decke spiegelt und eine grauenvolle, kitschige Lightshow mit leuchtenden Rentieren, Weihnachtskugeln, Sternen und lauter Musik.

Hardy ist inzwischen mit seiner Physiotherapeutin dicke befreundet. Zum Abschied schenkt sie ihm ein Terraband. Sie und auch Doktor Triana geben grünes Licht für unsere Weiterreise. Hardy soll jedoch noch in den folgenden sechs Wochen seine Übungen fortsetzen.

Also sind wir super froh, Mitte Dezember endlich weiter zu können. Aufgeregt packen wir die Räder. Es fühlt sich wie ein Neubeginn an. Auch kommen unsere neuen frisch aus Europa mitgebrachten Radtaschen zum Einsatz. Die letzten Fotos werden geschossen und der Muell rausgebracht. Gleich geht es los.

Fotos zum Text gibt es in der Galerie.

KolumbienPermalink

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