Von der bolivianischen Grenze, über Copacabana – bis nach La Paz (Bolivien/August 2013)

Nach Bolivien radeln wir eines Mittags bei strahlendem Sonnenschein ein. Die Einreiseformalitäten im kleinen Ort Kasani sind schnell erledigt. Als Reiseradler bekommen wir vom netten Beamten hinter’m Schreibtisch sogleich die erhofften 90 Tage in den Pass gehauen. Der Soldat in seiner glänzenden Uniform am Nachbartisch wollte uns dagegen nur 30 Tage, wie all den anderen Reisenden geben.

Bolivien – los kann’s gehen. Erkundet werden will Land Nummer 14!

Erste Eindrücke
In Bolivien wirkt es ärmlicher, heruntergekommener und vermüllter als im Nachbarland Peru. Das macht sich auch so gleich im bröckelnden Asphalt bemerkbar. Löcher in der Piste werden einfach per Einpassung von handgeschlagenem Kopfsteinpflaster ausgebessert, ohne jeglichem „Klebstoff“. Die passenden Steine gibt es gleich auf den Hängen der alten Inkaterrassen nebenan.
Die Huckel, die sich über die ganze Fahrbahn ziehen und welche die rasenden Fahrer zum Abbremsen bringen sollen, sind hier wesentlich spitzer, so dass auch wir eine Vollbremsung einlegen müssen.

Viele Leute sind nicht an einem Gespräch mit uns interessiert, in den Läden uns etwas zu verkaufen ebenso wenig. Wir kämpfen noch mehr um Aufmerksamkeit der Verkäufer als in Peru. Auch haben wir oft das Gefühl, dass wir ohne mit der Wimper zu zucken und mit einem Lachen im Gesicht über’s Ohr gehauen werden. Auf die Frage, warum denn die Ware so teuer sei, bekommen wir jedes mal zu hören, die Preise seien gestiegen. Irgendwann ist es echt nicht mehr glaubwürdig. Auch um die Rückgabe unseres Wechselgeldes müssen wir uns stark bemühen. Es wird gesagt, es gäbe keinen cambio, aber dann haben die Verkäuferinnen doch ihre Schürzentaschen voller Klimpergeld.

Schon in der Kürze unserer ersten Tage in diesem Land erleben wir viel Gewalt. Hier wird anstatt zu reden schnell zugeschlagen. Scheint ganz normal zu sein. So schließe ich die Tür in einer Pizzeria in Copacabana (leider) zu oft, nachdem die Horde Kinder der Besitzer rein und raus düsen. Daraufhin wird der älteste Junge ohne Ansage in die Küche gezerrt und mit einem Lineal verdroschen.
Auch ein Lehrer haut bei einem Training zum Pyramidenbau anlässlich des Nationalfeiertags vor einer Schule gern heftig mit einem Holzstab auf die Hinterteile der Jungs, wenn die Schüler nicht schnell genug aufeinander klettern.
Ein Junge schlägt einfach Hardy, als der in einem Laden mit dessen Eltern über die Preise diskutiert. Die Eltern schreiten weder ein, noch sagen etwas dazu, als sich Hardy nicht nur über die horrenden Preise sondern auch über das Verhalten ihres Kindes aufregt.
Ich weiß nicht, ob die Worte Sturheit, Ignoranz, Gleichgültigkeit und auch Feindseligkeit genau das treffen, was wir in unseren ersten Tagen auf der Hauptverkehrsroute zwischen Copacabana und La Paz vermehrt empfinden.

Copacabana
Bis ins nahe Copacabana kurbeln wir angenehm über einen kleinen Pass und schon liegt der gemütliche Ort unter uns. Wie am Meer gelegen sitzt das beschauliche Städtlein zwischen zwei Bergen am Sandstrand.

Wir ziehen schnell in unser Hotel (Hostal Sonia) und schmeißen uns mit den vielen anderen Backpackertouristen ins Gewimmel. Gleich zwei Ecken weiter befindet sich die große, wunderschöne Kathedrale. Von Außen weiß getüncht, mit grüner, blauer und türkiser Fliesenkunst auf dem Dach und den Türmen beeindruckt sie mich weit mehr als ihr güldenes Inneres. Die berühmte schwarze Madonna Copacabanas aus dem 16. Jahrhundert bekommen wir leider nicht zu Gesicht.

Gleich vor der Kathedrale spielt sich ein abgefahrenes, quietschbuntes Spektakel ab. Nicht nur zu Zeiten der Aymara und Inkas sowie später zu Zeiten des Augustinerordens war Copacabana eine wichtige Kultstätte. Sie ist es heute noch! Denn wer sich ein neues Fahrzeug angeschafft hat, der kommt nach Copacabana, um es segnen zu lassen! Täglich kommen neue Autokolonnen an. Es wird sogar vor der Kathedrale genächtigt, um morgens der erste zu sein – Taxis, Minibusse, Privatfahrzeuge und sogar LKWs stehen Schlange in der Gasse vor dem Sakralbau. Neben ihnen befindet sich eine ganze Armada von Büdchen, die bunte Blumen, Girlanden oder Hüte aus Plastik oder Papier an die Fahrer, die mitsamt ihren ganzen Familien anreisen, verkaufen. Auch sehr lustig anzusehen sind die verschiedenen kleinen, per Hand bemalten Modellhäuser oder Autos aus Plastik, die man sich ebenfalls kaufen kann. Es gibt einstöckige oder zweistöckige Häuschen mit Läden drin oder Pool daneben. Da gibt es auch Bündel Spielgeld, die neben dem anderen Schmuck ebenso auf der Motorhaube drapiert werden und die gewünschten Lebensziele repräsentieren. Mit diesen Accessoires werden Kühlerhaube sowie Seitenspiegel penibel dekoriert.
Dann kann ausgewählt werden: Möchte man das Kraftfahrzeug mit Coca Cola oder Bier von der Schamanin oder mit Weihwasser aus dem Plastikeimer per Plastikblume vom Padre segnen lassen? Letzterer sagt in die offene Motorhaube gewandt seinen Psalm auf und spritzt dann das heilige Wässerchen auf den Motor, in den Sitzraum sowie auf die Räder. Bei Coca Cola oder Bier muss das ja ein schweine Geklebe sein! Dann gibt es noch ein Gruppenfoto mit dem Padre und ihm wird für seine Dienste umgerechnet rund ein Euro in die Hand gedrückt.

Ansonsten besteht Copacabana aus unzähligen, in die Jahre gekommenen Hotels, Restaurants und Souvenirläden. Zusammen mit Lena und Hardy schlendern wir an ihnen vorbei und lassen uns direkt am Ufer des Sees eine gegrillte Forelle mit einem leckeren, dunklen Bier schmecken. Am dreckigen Sandstrand liegen olle Tret- und Paddelboote bereit. Viele, viele Boote für die Tagesausflügler schwanken in den leichten Wellen. Die Sonne senkt sich und plumpst in den See. Wir genießen das leuchtende Abendrot. Es kommt eine fröhliche Ferienstimmung auf!

Isla del Sol
Zusammen mit etlichen anderen Touristen machen wir uns mit Hardy und Lena auf den Weg, um eine Tageswanderung auf der Sonneninsel zu unternehmen. Laut Geschichte befindet sich genau hier der „Geburtsort“ des Inkareiches. Der Legende zu Folge soll auf der Sonneninsel der Schöpfergott Viracocha seine beiden Kinder Mama Ocllo und Manco Capac abgesetzt haben. Diese stiegen in ein Boot aus Binsen und fuhren ‚gen Norden, wo sie Cusco und die Dynastie der Inkas gründeten.
Obwohl es heutzutage auf dem Inselchen recht überlaufen ist und man an einigen Bezahlstationen Wegegeld abdrücken muss, lohnt sich der Ausflug. Die Aussicht auf die schneebedeckten Berge in der Ferne, das tiefe Blau des ruhig daliegenden Sees und der karge, graue und ockerfarbene Steinboden sieht unglaublich aus, als wir über die bergige Insel an einigen Ruinen vorbeiwandern.

Auf nach La Paz
Wir verlassen Copacabana am Mittag, um bei warmer Nachmittagssonne einen sich hinziehenden Anstieg auf 4300m sowie die Ausblicke auf den Titicacasee genießen zu können. An den steil abfallenden Hängen sind verwitterte Terrassen der alten Inkas auszumachen. Das zerklüftete Ufer erinnert an Fjorde. Inseln breiten sich vor uns aus. In der Ferne leuchten die weißen Gipfel der Cordillera Real.

Und dann liegt sie vor uns, die Engstelle des Titicacasees, in der er nur 800m breit ist. Bei Tiquina muss per Fähre ans gegenüberliegende Ufer gequert werden. Das ist eine abenteuerliche Fahrt. Auf morschen Kähnen, ausgelegt mit breiten Bohlen und angetrieben per gealtertem Außenbordmotor, geht es wackelig hinüber. Auch werden so ganze Reisebusse heftig schwankend transportiert, getrennt von den Fahrgästen.
Am späten Nachmittag kurbeln wir uns dann auf der anderen Seite des Ufers wieder den Hang hinauf. Es ist bereits nach 18 Uhr, die Sonne versingt gerade im See, da finden wir endlich einen versteckten Zeltplatz auf einer der alten Inkaterrassen über dem Wasser. Das wollten wir schon immer mal machen!

Unser Weg führt uns in Huatajata zu der Werkstatt des Binsenbootsbauers Demeterio Limachi. Die Limachibrüder sind die Erbauer der Ra II, mit der einst Thor Heyerdahl 1970 von Marokko nach Barbados segelte. Später bauten sie, wieder für Heyerdahl, die Tigirs und Kon-Tiki. Wir halten an und sagen „Hallo“. Der alte und inzwischen sehr leider frustrierte Demeterio baut heutzutage nichts mehr. Boote aus Holz hielten viel länger, die Binsenprodukte seien nach einem Jahr untauglich, hören wir. Nur noch Show für die heran gekarrten Touristen sind die paar Modellboote und alte Fotoalben. Da wir zum einen als „sparsame Deutsche“ und zum anderen als Fahrradfahrer seiner Meinung nach eh nichts kaufen würden (o-Ton: „Nicht einmal eine Postkarte!“), ist der alte Limachi nicht besonders an uns interessiert. Er verbietet uns sogar in seinen Shop hinein zu gehen. Das nenn‘ ich mal Verkaufstaktik.

Kurz darauf rollen wir einmal wieder in Hardy und Lena hinein. Bis nach La Paz wollen wir gemeinsam radeln. Es ist platt und wir kommen gut voran. Viel zu gut, denn wir befinden uns nur noch 30km vor El Alto, der berüchtigten, heruntergekommenen Stadt oberhalb La Paz’s, in der wir am Abend nicht ankommen wollen. Versteckte Zeltplätze finden wir nicht. In all den Dörfern gibt es keine Hotels. Es wird gefeiert, denn irgendeine Jungfrau wird gehuldigt. Musik wird gespielt. Es wird getanzt und getrunken. In Villa Vilaque, einem solchen Dorf halten wir an, um einen Platz für die Nacht zu finden. Zum ersten Mal auf unserer Reise ist es wirklich schwierig einen Schlafplatz klar zu machen. In den beiden Schulen werden wir von einer grantigen Frau scharf abgewiesen. Das Rathaus ist voller Besoffener und im Gesundheitszentrum will uns der auch angetrunkene Oberarzt nicht schlafen lassen. Doch Hardy hat mit seinen charmanten Überredungskünsten Erfolg und wir dürfen doch noch in der einsetzenden abendlichen Kälte die Zelte hinter dem centro de salud aufbauen.

Langer Aufenthalt in La Paz
Nach kurzer Fahrt liegt La Paz plötzlich in seinem Talkessel unter uns. Das Gelände fällt in El Alto ruckartig ab. Wir sausen zusammen mit Hardy und Lena auf der alten Piste die Serpentinen rund 1000 Höhenmeter ins tiefer liegende La Paz hinunter.
Auf der Plaza San Franzisco warten Lena und ich fast zwei Stunden, während die beiden Hardys alle Hotels der Umgebung abklappern. In doppelter hardy’schen Schlagfertigkeit und Durchsetzungskraft erzielen sie einen super Deal im luxuriösen Hotel Lion Palace. So ein großes und schickes Zimmer hatten wir noch nie. Bolivien ist im Puncto Hotels und Essen-gehen recht günstig. Preiswerter können wir nicht selber kochen. Am Abend verdrücken wir bei Inca Bier ’ne ganze Lammkeule.

La Paz gefällt uns gut. Es ist eine interessante Mischung aus Moderne und uralten Traditionen. Glänzende Hochhäuser mit Glasfassaden stehen neben unverputzten, halbfertigen Ziegelhütten. Kunstvolle, koloniale Gebäude mit Freskenfassaden aus dem 19. Jahrhundert gammeln vor sich hin.
Der Verkehrsstrom reißt in den engen, steilen Kopfsteinpflastergassen einfach nicht ab. Fußgänger schlängeln sich durch das stop-and-go hindurch. Als nicht motorisierter Verkehrsteilnehmer muss hier ständige Aufmerksamkeit geboten werden. Bei Straßen- Überquerungen muss nicht nur nach links und rechts geschaut werden, sondern auch nach schräg vorne und hinten. Achtung sei auch geboten nicht auf dem blank gelaufenen Kopfsteinpflaster auszurutschen und im stetigen Schwall der Fußgänger nicht an den Vordermann zu rempeln.

Dünne Frauen laufen in schicken Hosenanzügen, grell geschminkt, schnellsten Schrittes an uns vorbei. Im Gegensatz zu ihnen schlendern rundliche Muttis in dicken Lagen bunter, übereinandergelegter, warmer Röcke, mit zwei geflochtenen Zöpfen und einem bunten Bündel auf dem Rücken durch die Straßen und verkaufen ihre Waren.
Überhalb von ihnen, an den Häuserwänden, von Ampelmast zu Ampelmast verlaufend, sehen wir dicke, chaotische Wülste schwarzer Stromkabel da hängend wie Spinnennetze.

Wir besuchen die Plaza Murillo, laut Hardy der Marcos Platz La Paz’s, mit seinen tausend Tauben und den Regierungsgebäuden drum herum, schlendern durch das alte indigena-Viertel, in dem sich nun die Touristen in Bergsteigeragenturen und Läden mit Alpakamode tummeln und erkunden die Hexengasse in der Calle Linares. Bei Wunderheilern und Zauberinnen kann man neben Tinkturen, Pülverchen, Elixieren, Heilpflanzen, Wünschen und Verwünschungen alles haben. An vielen Straßenständen hängen getrocknete Lamaföten in allen Entwicklungsstadien herum. Ein Brauch ist es bei der Grundsteinlegung eines Hauses einen Lamafötus mit in die Grube zu legen. Es soll Pachamama besänftigen. Bleibt ein solches Haus bei Erdbeben wohl besser stehen?

Es ist Unabhängigkeitstag. Auf der Plaza San Francisco findet eine Parade statt. Ein Orchester junger Polizisten in pieksauberer Uniform schwingt ausgelassen tanzend die Instrumente. Gruppen in verschiedenen bunten Trachten tanzen rund um den Platz.


Hardy klappert einmal alle Bergsteigeragenturen ab und erfüllt sich einen seit Ecuador langersehnten Traum: Die Besteigung eines 6000ers. Zusammen mit Guide Miguel besteigt er in einer Zweitagestour den Huaina Potosi.
Mit ein paar sehr patriotischen Franzosen, die Hardys Uneinsicht in die Notwendigkeit doch auf „sein“ Stück Erde (Deutschland) stolz zu sein nicht verstehen können, verbringt er die Nacht, um am Morgen um zwei Uhr mit Stirnlampe, Steigeisen und Eisaxt bewaffnet den Gipfelsturm zu wagen. Oben angekommen gibt es tatsächlich einen Grund stolz zu sein! Nach anstrengenden viereinhalb Stunden Aufstieg ab 5100m stehen Hardy und Miguel als erste am heutigen Tage auf den Gipfel auf 6088m und bewundern das Hereinbrechen des Tages. Gut akklimatisiert zu sein zahlt sich aus. Es beginnt sich zuzuziehen, doch das macht den Sonnenaufgang mit dem nun zwischen den Wolken durchlukenden Gestirn nur noch schöner. Schnell geht es dann über den schmalen Grad unterhalb des Gipfel wieder bergab und über die nun beleuchteten Schneefelder und kleine Gletscherspalten zurück zum Basecamp. Ein besonderes Abenteuer während dieser Reise ist bestanden. Hardy strahlt vor Glück!

Irgendwann ist es dann höchste Zeit, das wir aus unserem „Luxushotel“ in die casa de ciclistas in La Paz umziehen. Hier stellt Cristian ein ganzes Apartment in einem Gebäude aus dem 19. Jahrhundert im Hause seiner Familie den Reiseraldern zur Verfügung. Die in die Jahre gekommene Wohnung, zusammengewürfelte Sperrmüllmöbel und Notizen diverser Radler haben ihren ganz eigenen Charme. Wir leben zusammen mit sieben anderen Reiseradlern und erleben mal wieder WG-feeling. Wir kochen zusammen, trinken Wodka aus der Plasteflasche, scherzen, werken an der unheimlichen, schlecht funktionierenden Elektroinstallation herum und lernen vieles über bolivianische Improvisationskunst. Natürlich wird auch an unseren Rädern gearbeitet. Hardy bekommt neue Pedalen und ein neues Tretlager. Bei mir kommt ein viel größeres Problem zu Tage, mein Rahmen ist leider aufgrund von Rissen und abgeplatztem Lack starkt verostet. Zum Glück zeigt sich der Vertreiber unserer Rahmen, ra-co, sehr kulant und ich bekomme einen neuen.

Außerdem finden wir Zeit uns ausgiebig mit der folgenden Route zu beschäftigen. In den nächsten zwei bis drei Wochen werden wir über die Pisten Westboliviens und des Nordzipfels Chiles über den Salar de Uyuni bis in den gleichnamigen Ort radeln. Dann soll es über die berühmt und berüchtigte Lagunenroute bis nach San Pedro de Atacama (Chile) gehen. Auf ins Abenteuer – wir freuen uns auf viel Wind, Sand, Wellblech und Salz.

Fotos zum Artikel gibt es in der Galerie.

BolivienPermalink

Comments are closed.