Allerletzte Radeletappe – von Brüssel bis nach Berlin (Europa/ März 2014)

Brüssel

Zurück in Europa. Kurz vor dem Landeanflug auf Brüssel wachen wir an einem frühen Morgen Ende Februar nach einer unbequemen Nacht gerädert im Flugzeug auf. Eine graue, undurchdringliche Suppe erwartet uns. Kühl ist es und es regnet. Es fühlt sich sehr ungemütlich an, als wir die Treppen vom Flieger hinab in den wartenden Bus steigen, der uns zum Flughafengebäude bringt.
Nach der für uns recht lasch angefühlten Passkontrolle, in der ich vor mich hin murre: „Es gibt ja gar keinen Stempel mehr“, lassen wir uns in der trägen Menschenmasse zu den Gepäckbändern mitziehen. Wir sind müde und fertig und völlig mit uns selbst beschäftigt, als ich zwei Gestalten wahrnehme, die merkwürdig, aufgereiht wie die Orgelpfeifen nebeneinander stehen und ganz aufgeregt wild winken. Ich muss zweimal hinsehen, bis ich es schnalle. Das sind ja Petra und Jörg! Hardys Eltern! Ich zerre an seinem Arm, da er in eine ganz andere Richtung abzudriften droht und warte ab. Es dauert, bis auch seine Kinnlade herunterfällt und er verdutzt stehen bleibt. „Was macht ihr denn hier?!?“, ist das Einzige, was er heraus kriegt. Wir stehen perplex und sprachlos vor seinen Eltern, die uns erstmal fest drücken. Wir freuen uns, sind verdattert und überfordert und können ihr spontanes Erscheinen nicht so ganz fassen. Denn unser Plan war es, ganz allein in Brüssel anzukommen und uns langsam radelnd unseren Familien zu nähern. Petra und Jörg wollten nicht so lange warten und sind einfach morgens nach Belgien geflogen, haben den Flughafen nicht verlassen und in der Gepäckausgabe auf uns gewartet…
Sie machen noch ein paar Tage Urlaub in Brüssel, so verabreden wir uns natürlich mit ihnen für den nächsten Tag, während wir die Räder aus den Boxen befreien und sie zusammen bauen. Die drei Flüge haben sie zum Glück sehr gut überstanden.
Nach einem Kaffee verabschieden wir uns und radeln im kalten Nass, genauso wie im patagonischen Mistwetter, unserer Gastgeberin Nataly entgegen. Nataly und Florence haben wir vor Wochen in Chile auf der Carretera Austral kennen gelernt und beim Wandern im Torres del Paine Nationalpark wieder getroffen, wo uns Nataly zu sich eingeladen hatte.

Nach 20 matschigen Kilometern landen wir am Rand der belgischen Hauptstadt in einem schönen Haus, dass sich Nataly mit ihren drei Mitbewohnern teilt. Sie ist bereits vier Wochen nach ihrer dreimonatigen Fahrradreise zurück und lacht herzlich über unsere Freude einer gut bestückten Küche, einer warmen Zentralheizung und einem gemütlichen Kamin. Auch dass Hardy sofort beginnt die verschlammten Räder zu putzen, findet sie sehr amüsant.

Den folgenden Tag verbringen wir mit Hardys Eltern, mehr zum Quatschen, Waffeln- und Frittenessen, als zum Sightseeing. Dennoch schaffen wir es zum berühmten, kleinen Manneken Pis und riesigen Atomium trotz Starkregens. Danach erholen wir uns bei einem Kirschbier in Petra und Jörgs Hotelzimmer und trocknen die Klamotten.
Einen Tag brauchen wir dann für uns, um den Jetlag auszukurieren, den großen Supermarkt zu erforschen und uns ausgiebig mit Nataly und ihrer Freundin July zu unterhalten.
Denn schon bald zieht es uns weiter, um mit einem lachenden und einem weinenden Auge die allerletzten verbleibenden 1000 Kilometerchen bis nach Berlin anzugehen. Wir wollen auch hier ein paar Schleifen drehen, um Familie und Freunde zu besuchen und so einige Teile Deutschlands kennen zu lernen … wenn wir schon mal mit den Rad unterwegs sind 🙂

Von Brüssel nach Düsseldorf
Durchs sanft hügelige Belgien fahren wir auf dem Fernradwanderweg LF6 bei doch noch einsetzendem Sonnenschein durch noch nicht grünen Wald, vorbei an noch nicht bestellten Feldern Maastricht entgegen.

Es ist schwierig sich auf dem nicht immer beschildertem Radweg mit unserem für Europa nicht detailreich genug und zudem veraltetem Kartenwerk zurecht zu finden. Zudem gibt es hier einfach viel viel mehr Möglichkeiten als in Südamerika. Das sind wir gar nicht mehr gewöhnt! Wir philosophieren, dass ein von uns bisher so strikt abgelehntes Navi an dieser Stelle durchaus sinnvoll sein könnte…
Radeln in Europa ist so gänzlich anders als in Lateinamerika. Die Menschen hier schauen uns auch neugierig hinterher, aber niemand spricht uns an oder grüßt uns. Das müssen wir tun. Wenn es dann zu einem Gespräch kommt, sind die Leute auch nett, fragen uns aber wenig, sondern erzählen eher, von sich und ihren kleinen Radelerlebnissen. Spricht Hardy mal ein Kind an und drückt ihm und nicht seiner Mutter unsere Visitenkarte in die Hand, zieht es seine Mutter schnell erschrocken hinter sich.
Den Verkehr empfinden wir in Belgien als unangenehm und nicht rücksichtsvoll, was sich in den Niederlanden stark ändert. Sich mal auf sein Vorfahrtrecht verlassen zu können, ist sehr angenehm.
Auch die Verlässlichkeit des Auftauchens der altbekannten Discounter aldi, lidl und netto finden wir klasse. Ich gehe hier super gern einkaufen und kann mich am breiten Angebot der Köstlichkeiten wie dunkles Brot, Käse und Joghurt gar nicht entscheiden.

Kurz nach dem Albertkanal passieren wir die Grenze zu den Niederlanden und stellen das erst an den sich ändernden Nummernschildern der Autos fest. „Hier gibts gar kein Grenzschild!“, rufe ich empört aus.
In der schönen Altstadt Maastrichts steppt nicht der Bär, sondern bei klirrender Kälte die Narren, denn es ist Rosenmontag. Bei lautem humpadumpa schwanken uns bunte Narren, Wikinger, Bienen und Prinzessinnen entgegen. Wir schauen uns das Treiben bei einer Portion Fritten an und nehmen dann Reiß aus. Rund 35km sind es noch bis zur Grenze nach Deutschland. Dort wollen wir am späten Nachmittag noch unbedingt hin. Aber zuerst zwingen uns in den meisten Orten Faschingsumzüge zum ewigen Stopp-and-go und zu so einigen Umwegen.
Dann ist es soweit, wir beradeln die niederländisch-deutsche Grenze. Schön zeigt sich dies beim abruptem Verschwinden des Radweges. Dann erblicken wir das hier vorhandene Grenzschild. Im Land Nummer 19, dem letzten Land auf unserer Reise sind wir nun angekommen. Es wird uns ganz warm im Bauch. Bald sind wir zu Hause!
Auf der nächsten Regionalkarte der Gegend erblicken wir eine grün markierte Fläche nicht weit entfernt und finden uns sogleich in der Teveler Heide wieder. Die Sonne geht unter, es ist ruhig. Nur wenige Spaziergänger sind noch unterwegs. Wir verschwinden in einem dichten Waldstück und bauen zufrieden das Zelt auf.

Unser Endspurt nach Düsseldorf entpuppt sich als schwierig. Da die Beschilderung an den Fernradwegen weiterhin lückenhaft ist und sich diese Fernradwege nie direkt, sondern in ewigen Schlängellinien voran schieben, brechen wir genervt ab und fahren nun Landstraße. Aber mit dem Tagesbau und sich der daraus verändernden Streckenführung sowie den umplatzierten Dörfern haben wir auch nicht gerechnet, so dass wir erst am späten Nachmittag über den Rhein nach Düsseldorf rollen. Natalys Straßen-Karte von anno 1960 ist da etwas überholt…

Düsseldorf
Als wir uns vor einem Viertel-Jahr das letzte Mal von unseren Freunden und Namensvettern verabschiedeten, war für uns klar, sie unbedingt auf unserer Heimreise zu besuchen.

Wir freuen uns riesig die Beiden wieder zu sehen und verbringen Stunden am reichlich gefüllten Küchentisch, trinken einen Kaffee nach dem anderen, wechseln zu Bier und quatschen und quatschen über unser Reisen und wie es sich anfühlt wieder zurück zu kommen, denn da sind uns Hardy und Lena schon drei Monate voraus.
Wie es der Zufall so will, steht eine Etage über ihnen eine Wohnung frei, die Tür ist nur angelehnt. So besetzten wir sie für ein paar Tage und genießen die Zweisamkeit in unserem eigenen Reich.

Düsseldorf will natürlich bei einem Altbier auch erkundet werden. Wir bummeln durch die Altstadt zum Rhein und lehnen uns zum Träumen zurück. Einen schönen Abschluss unserer gemeinsten Tage bietet Lenas Geburtstag, den wir zusammen mit Freunden in einem laotischen Restaurant verbringen.

IMG_7022Nur schweren Herzens verlassen wir unsere Freunde und fahren weiter ins Münsterland. Morgen sind wir mit meiner Familie zu unserem Wiedersehen verabredet. Ich werde schon jetzt ganz aufgeregt, als wir durch bekannte Orte wie Burg Steinfurt unserem Ziel für heute entgegen fahren. 7022Um die Ruhe vor dem Sturm genießen zu können, zelten Hardy und ich noch einmal ganz allein in der Metelener Heide in einem wunderschönen Nadelwald nahe eines Sees, um den ich in meiner Kindheit so oft spazieren ging.

Metelen
Noch 3km trennen uns von dem Treffpunkt im Wald, an dem wir uns mit einem Teil meiner Familie treffen wollen, um den letzten Rest gemeinsam zum Haus meiner Großeltern nach Metelen zu radeln. Wahnsinn, ist das aufregend!
Langsam rollen wir über den Fahrradweg um die letzte Ecke, dann stehen sie da. Unglaublich! Die Gefühle spielen verrückt, die Mägen drehen sich um.
Im Augenwinkel sehen wir den Kameramann, der voll auf uns drauf hält. Er ist von meinem Opa auf uns angesetzt worden und dominiert leider die eigentlich private Szene unserer Ankunft. Der Gute verkündet auch sogleich, dass ich heute Abend noch zu einem Live-Interview ins nahe Münster fahren muss.
14Nach einem großen „Hallo“ und einem Glas Sekt rollen wir in einer kleinen Meute gemütlich in den Ort hinein, wo uns der Rest meiner Familie mit einem Feuerwerk und Musik vor einer großer Leinwand erwartet. Noch einmal kommen die Gefühle hoch. Schön ist es sie alle wieder zu sehen! Wir sind etwas überfordert, denn gern möchten wir sofort Zeit mit meiner Familie verbringen, aber auch hier warten zwei Damen der örtlichen Tagesblätter auf uns, so dass wir uns erstmal zu einem Interview zusammen setzen, bevor wir uns mit meiner Familie freuen können.
Dann endlich ist etwas Ruhe und Zeit sich zu unterhalten, bevor es nach Münster ins Studio geht. Das erste Mal live vor der Kamera!

In Richtung Bremen und Zwischenstopp bei André
Die Tage in Metelen vergehen wie im Fluge und wir schwingen uns wieder auf die Sättel, um auf unserem Weg ‚gen Norden bei Greffen am alten Hof von Andrés Familie Halt zu machen. André hatten wir Ganz zu Beginn unserer Reise in Kanada kennengelernt und ihn im Death Valley sowie in Costa Rica wieder getroffen. Natürlich holen wir drei auch an diesem Abend bei einem Bier alte Geschichten heraus. Toll ist, dass Werner, ein Freund unseres Gastgebers, der ein fleißiger Leser unseres Blogs ist, extra vorbeikommt, um uns kennenzulernen!

Auf unserem Weg nach Bremen finden wir Unterschlupf in den zahlreichen Wäldern der Gegend. „Es ist ja so einfach in Deutschland zu zelten!“, meint Hardy. Überall sind Wälder vorhanden, die nicht eingezäunt sind. Das Gelände ist flach. Schwupps haben wir die Räder einfach rein geschoben, ein bisschen hin und her geguckt und schon finden wir die tollsten Pennplätze!

Bremen
Diese Stadt gefällt uns ungemein gut! Das wunderschöne alte Bremen mit seinen roten, schiefen Ziegelhäusern und dem vielen Wasser begeistert uns auch aufgrund seiner Bewohner. Die Leute hier wirken so gelassen und sind super nett. Genauso wie unsere Gastgeberin Dörthe, die uns ein paar Tage ihre Laube zur Verfügung stellt. Wir finden´s klasse ein Häuschen in der sonst so menschenleeren Kolonie ganz für uns allein zu haben, während draußen der frische Wind pfeift, die Bude wackelt und wir uns drinnen mit heißem Tee aufwärmen können.

Hamburg
Die 115km nach Hamburg rocken wir dann in einem Mal durch. Es ist flach, nieselig und kalt, da wollen wir nur noch ankommen.

Schließlich bringt uns eine Fähre am frühen Abend über die Elbe in die lebendige Großstadt. Unsere alten Mitbewohner Andrea und Robert erwarten uns bereits mit ihrer kleinen Tochter Matea, die wir unbedingt kennenlernen wollen. Es ist toll sie wieder zu sehen! Natürlich verfallen wir auch hier ins Quatschen und verbringen eine intensive Woche miteinander, in der wir so einige Streifzüge durch Hamburgs vielfältige Viertel unternehmen. Ein Besuch in der Roten Flora rundet unseren Aufenthalt ab.

Letzter Radelabschnitt, von Hamburg nach Berlin
IMG_6889Dann heißt es weiter fahren, dem Ende entgegen, denn in wenigen Tagen haben wir uns mit Familie und Freunden zu einer Willkommensfeier in Berlin verabredet. Runde 350 Kilometer liegen nur noch vor uns, die wir bis nach Wittenberge auf dem Elbe Radweg verbringen. Dieser führt uns durch urige Orte mit vielen Fachwerkhäusern, mal auf und mal neben dem Damm am Fluss entlang, vorbei an alten Maueranlagen aus DDR-Zeiten. Leider habe ich mich bei der Tochter unsere Freunde an einem Magendarmscheiss angesteckt und erlebe auf unserem letzten Tagen genau das, was uns in Lateinamerika so viele Male erspart geblieben war. Ich hänge total durch, bin schlapp, mir ist übel und ich habe Durchfall. Einmal müssen wir nach ewigen 20km abbrechen und das Zelt im nächsten Wäldchen aufbauen. Auch Hardy geht es nicht super gut. So kämpfen wir uns eher voran, als das wir die kalten, aber wenigstens sonnigen letzten Radel-Tage genießen.

IMG_7268Erschöpft kommen wir im Spandauer Forst an, wo wir unsere letzte Nacht in freier Natur verbringen. Wir finden einen Platz neben einem Hochstand auf einem Hügel und blicken auf die sich vor uns ausbreitenden jungen Nadelbäume. Wir legen uns in die Nachmittagssonne, machen ein Nickerchen und lassen Revue passieren. Obwohl die Freude auf all‘ die Leute super groß ist, packt es uns in Berlin anzukommen nicht so doll wie Ushuaia. Berlin ist halt nicht das Ende der Welt! Das Ziel ist längst erreicht, alles weitere nur eine milde Zugabe.

Zurück in Berlin
Heute rollen wir durch Spandau, vorbei am Hohenzollernkanal in den Wedding zu meinem Bruder Jonas. Wir quartieren uns in seiner WG ein, duschen mal wieder und verschlingen einen echt leckeren Döner. Mann, hatten wir das lang nicht mehr! Dann fletzen wir uns müde aufs Sofa und lassen den Tag ganz in Ruhe ausklingen, um morgen wieder fit zu sein.

Der Plan hat funktioniert. Frisch treten wir die nun wirklich allerletzten Kilometer durch die Stadt raus nach Hellersdorf an. Über die Seestrasse geht’s in den Prenzlauer Berg und dann nach Friedrichshain. Toll ist es, alles wieder zu erkennen. Am Frankfurter Tor, setzten wir uns auf die Treppen und beobachten die vielen Leute, die bei diesem warmen Sonnenwetter unterwegs sind.
Zu allerletzt geht’s über Lichtenberg raus nach Hellersdorf. Natürlich nicht ohne einen Platten meinerseits. Glas zerdepperter Bierflaschen lässt uns dann tatsächlich 10 Minuten zu spät zu unserer Willkommensfeier erscheinen!

Wir biegen um die letzte Ecke und fahren nach 1030 Tagen und 35.908 geradelten Kilometern auf die Kita, dem Hellersdorfer Kultur- und Wohnprojekt, indem wir auch vor unserer Reise gelebt hatten, zu. Die Mägen hängen uns in den Kniekehlen.
Alle stehen sie da, mit Luftballons in der Hand, und rufen uns entgegen! Vor allem Hardys Familie ist zahlreich erschienen, aber auch Mitbewohner, Freunde und Bekannte sind gekommen. Nicht nur wir sind im Gefühlschaos. Freudentränen fließen. So viele Leute, jeder wird gedrückt und begrüßt. Wir sind total überfordert und wissen nicht mit wem wir zuerst reden sollen.
Hardys Mutter hat groß aufgefahren und unser Ankommen toll organisiert. Girlanden, Luftballons und ein selbst gemaltes Plakat schmücken Garten und Haus. Ein Zielband ist gespannt, dass wir durch radeln müssen, danach geht es über einen roten Teppich auf das Gelände. Bierbänke stehen draußen und drinnen gibt es ein immenses Buffet. Wir sind total überwältigt!
Der Nachmittag vergeht fix, während wir versuchen mit allen zu schnacken. Als es später und dunkler wird, gesellen wir uns draußen an die Feuertonne. Bis 2h nachts sitzen wir noch zusammen.

Jetzt sind wir wieder zurück, wieder zu Hause. Für den ersten Moment fühlt sich das gut an, wir sind total euphorisch.
Von so vielen anderen Langzeit-Reisenden haben wir gehört, das das Zurückkommen, sich wieder eingewöhnen und vor allem hier wieder glücklich zu werden das Schwierigste am ganzen Unterfangen einer solchen Tour sei. Ich bin gespannt, wie sich das bei uns entwickeln wird.

Die Fotos zum Artikel befinden sich in der Galerie.

 

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