Die von vielen Erzählungen und Mythen umwobene Carretara Austral, die durch die X. und XI. Region Chiles führt, liegt direkt vor uns: Karge Steppen, dichte Regenwälder, noch unbestiegene Gipfel des Eisfeldes Campo de Hielo Norte. Aber vor allem dominiert hier eines: Wasser. Unaufhörliche Wassermassen von oben sowie von unten in Form von verwobenen Fjorden, gigantischen Gletschern, Neuschnee auf den Gipfeln der Berge und türkisfarben leuchtenden Flüssen und Seen lassen uns immer wieder inne halten und staunen. Patagoniens Natur ist rau und unberechenbar aber zugleich vielfältig, überraschend und wunderschön!
Santa Lucía bis La Junta
Am Grenzübergang Futalefu kreuzen wir von Argentinien zurück nach Chile. Kurz darauf biegen wir im verschlafenen Nest Santa Lucía vom schotterigen Belag der carretera 235 auf Schotter der carretera 7 ein, der Carretera Austral.
In einem Mammutprojekt hatte einst Pinochet 20 Jahre lang an der „Fernstraße“ von Puerto Montt bis nach Villa O’Higgins bauen lassen, bis sie 1996 „fertig gestellt“ wurde. Der Bau kostete so einigen Soldaten das Leben und verschlang bis dato ganze 300 Mio. US Dollar.
Wir hören von Plänen, die zur Zeit noch in Villa O’Higgins aufhörende Piste über diverse Inselchen ausbauen zu wollen, um bis nach Punta Arenas auf chilenischer und nicht argentinischer Seite nach Süden fahren zu können. Gerüchte besagen, dass dieser Abschnitt frühestens 2050 fertig gestellt sein soll.
Ein anderer Plan ist es, die bisher existierende Schotterstraße zu asphaltieren. Und davon bekommen wir bereits etwas mit. Auf den folgenden 70km bis nach La Junta wird fleißig gebaut. Wir teilen uns knackige, enge Steigungen mit mit Material beladenen Lastfahrzeugen. Klar ist, unsere Anwesenheit stört die Fahrer. Abgebremst und gewunken wird nur von Zweien. Die Restlichen rasen vorbei. Steinchen springen, wir müssen ausweichen und sind am Tagesende von oben bis unten eingestaubt. Unter den Reifen wegrutschend fühlen wir alle Arten verschiedenster Gesteine in allen Größen. An Material wird genommen, was in der Gegen vorhanden ist. Am Dööfsten sind kartoffelgroße Kieselsteine direkt aus dem Flussbett nebenan. Wir halten den Lenker mit voller Kraft fest, versuchen das Fahrrad unter Kontrolle zu behalten. Die Räder entwickeln ein Eigenleben. Es ist ätzend! Da wir permanent auf den Boden achten müssen, sehen wir viel Schotter, können jedoch nichts zu der Natur um uns herum berichten.
Zu allem Überfluss tut sich an Hardys Fahrrad eine neue, besorgniserregende Baustelle auf: Wir bemerken einen Riss in der Felgenflanke seiner Hinterradfelge. Eine Folge seines sportlich-flotten Fahrstiles auf den Abhängen der Schotterpisten der vorangegangenen Tage – oder auch „radeln wie Sau“, plus die bisher abgeradelten 32.500km. Seit Costa Rica, also 1 ½ Jahre lang, trage ich eine Ersatzfelge „nur für den Fall“ mit mir herum. Bewährt sich diese Vorkehrung nun „endlich“?! Doch Hardy hat keine grosse Erfahrungen mit dem Einspeichen eines neuen Rades und möchte dies am Liebsten mit professioneller Unterstützung im drei Tage entfernten Coyhaique tun. Momentan stagniert der Riss. Es wird vorsichtig weitergeradelt und nun vor jedem Schlagloch abgebremst.
Besuch des Nationalparks Queulat
Auch heute beschert uns wieder ein 14km langer Baustellenabschnitt Freude. Immerhin ist das Bodenmaterial nur klein und rutschig! Wir brechen früh auf, erst weit nach 9Uhr sehen wir die ersten Baufahrzeuge rollen. Just ab der Grenze zum Nationalpark Queulat wird der Strassenbelag angenehm fest. Wir radeln auf einer von riesigen „Rhabarberpflazen“, den Nalpas, zugewucherten, engen Schneise neben einem dunklen See entlang. Es geht fleißig auf und ab. Die Luft ist angenehm kühl und klar. Endlich kein Staub mehr!
Im niedlichen Ort Puyuhuapi, der am Ende des gleichnamigen Fjordes liegt, machen wir eine Pause und füllen die Packtaschen mit Lebensmitteln auf. Aus den Schornsteinen der in die Jahre gekommene Holzhäusern, deren Wände mit Holzschindeln gedeckt sind, raucht es und riecht herrlich nach Holz. Es ist frisch, aber die Sonne scheint. Wir gesellen uns neben einige Frauen, die auf dem Platz Gemüse aus ihrem Garten verkaufen.
Auf der schmalen Piste, in die Berghänge hinein gehauen, entlang des wunderbaren Fjordes fahren wir anbei von Fischfarmen dem Nationalpark entgegen. Da macht es „Krach“, oh nein! Der Zustand Hardys Felge hat sich deutlich verschlechtert! Sie hat nun die Form einer zusammen gedrückten Ziehharmonika. Mit bangendem Herzen schleichen wir die restlichen 4km voran zum Eingang des Nationalparks. Erstmal werden die Räder am Parkplatz beiseite gestellt und das Angehen dieses Problems verschoben.
Wir unternehmen eine Wanderung durch den Wald zum Ventisquero Colgante, einem Hängegletscher. Aufwärts geht es durch einen immer nassen Wald voll von Südbuchen, Farne und wieder den gigantischen Nalpas. Vom Aussichtspunkt bestaunen wir den beeindruckenden Gletscher. Wie ein grau-blauer, nasser Sack liegt er eher auf der Bergkante, als das er hängt. Zwei nicht abreißende Wasserfälle rauschen in die Tiefe und speisen den ordentlich gefüllten Fluss. Es knackt. Tosend brechen Eisbrocken ab und fallen in vielen Stücken in die Tiefe. Das laute Getöse des Aufpralls kommt bei uns zeitversetzt an.
Müde vom Radeltag plus Wanderung machen wir uns auf den Rückweg zu unserem Fahrrädern und Fahrradproblemchen. Sollte sich Hardy hier vor Ort in unsere Fahrradliteratur einlesen und in langwieriger Arbeit es versuchen das Rad allein neu einzuspeichen, oder schaffen wir es in den nächsten Ort? Letzteres ist leider unwahrscheinlich.
Erstaunt finden wir auf den Lenkertaschen der Räder zwei Kekspackungen und eine Nachricht für uns, „Wenn ihr Lust habt auf nette Unterhaltung und ein Abendessen, kommt zu Zeltplatz Nummer vier!“ Das lassen wir uns natürlich nicht zweimal sagen und lernen vier Reiseradler aus Spanien, Holland und Argentinien kennen. Aufgrund ihrer kleinen Kinder sind Álvaro, Lucía, Harry und seine schwangere Freundin gerade mit dem Auto auf Reisen.
Insbesondere Álvaro ist von dieser Methode des sich Fortbewegens nicht sonderlich angetan. Er hat vor einigen Monaten gelernt Räder zu bauen und ist Hardy mit seinen Tipps und Tricks sofort eine große Hilfe, als er die Speichen von der alten Felge in die neue umbaut. Am Ende, es ist bereits spät und dunkel geworden, sitzen sich die beiden mit leuchtenden Stirnlampen gegenüber und Álvaro bringt Spannung auf die Speichen. Es bleibt ein kleiner Höhen- und Seitenschlag und auch die Felgenmittigkeit ist nicht hinreichend gewaehrleistet, aber bis nach Coyhaique werden wir kommen. Was für ein glücklicher Zufall, ohne Álvaro hätten wir schon alt ausgesehen…
Auf nach Coyhaique
Endlich kann Hardy mit der neuen, zuverlässigen Felge wieder richtig Kraft einsetzen. Das ist auf der folgenden 12km langen Steigung auch nötig. Loser Schotter, der das Vorderrad wegrutschen lässt, sowie viel Jeepverkehr und dementsprechend aufgewirbelter Staub machen uns in der kräftigen Morgensonne Freude, als wir uns schwitzend hinaufarbeiten. Bremsen, die besonders mein Gesicht lieben, umschwirren uns wie bekloppt. Vier Wegbegleiter sind keine Seltenheit. Zu dumm, dass beide Hände am Lenker bleiben müssen, da hilft nur Pusten, damit die Biester nicht stechen.
Die Natur ist der absolute Hammer! Dichter Wald umgibt uns. Dahinter sehen wir karge Berge, auf denen frische, weiße, dicke Schneemassen liegen. Wir entdecken weitere Gletscher, die in der Sonne weiß-blau leuchten.
Kurz darauf erreichen wir bei der Kreuzung nach Puerto Cisnes auf einem bereits fertiggestellten Abschnitt der Carretera Austral endlich Asphalt! Es rollt wie von selbst. Auch geht es weiterhin auf und ab, aber wir rasen und können dabei die an uns vorbei fliegende Natur beobachten, nicht nur die Bodenbeschaffenheit.
Der Abschnitt vor Coyhaique ist geprägt durch Brandrodung. In den 40er Jahren soll es hier große Waldbrände gegeben haben, deren Zeugen, die grauen, verstümmelten Überreste einstiger Baumriesen, wir noch wahrnehmen können. Zwischen ihnen grasen Kühe und Schafe auf den entstandenen Weideflächen. Diese fressen sich zu beiden Seiten der Piste immer weiter in den Wald hinein, um dann penibel mit Stacheldraht umzäunt zu werden. Mich würde interessieren, wieviel Prozent der Carretera bereits eingezäunt sind! Für uns ist es schwierig einen Schlafplatz zu finden. Manchmal gibt es Gatter, die nicht mit einer Kette verschlossen sind. Die öffnen wir und verschwinden in den Büschen. So auch heute. Leider zündet bald Jemand just auf der Nachbarparzelle in einem Haufen gerodeter Pflanzen einen Schwelbrand an. Der Wind steht voll in unsere Richtung, wir werden die ganze Nacht hindurch eingeräuchert.
Der Verkehr nimmt deutlich zu. Ein schwerer Irrtum meinerseits, man wäre auf der Carretera Austral allein … diese Zeiten sind vorbei. Fast täglich treffen wir auf andere Reiseradler. Echt voll hier! In Mañihuales kommen gleich vier angelaufen, als wir vor einem Laden Essen in die Packtaschen stopfen. Es sind zwei ältere Franzosen und zwei sehr junge Belgierinnen, die alle in der casa de ciclistas untergekommen sind. Wir schauen kurz vorbei, entscheiden uns lieber den heftigen Rückenwind auskosten zu wollen und noch ein paar Kilometer zu rollen, als alle zusammen in diesem kleinen, stickigen Raum zu pennen.
Coyhaique
Geschafft kommen wir nach einem deftigen Radeltag recht welliger 80km in Coyhaique, der Hauptstadt der Region Aiséns, an. Just vor der Stadt wartet nochmal eine lange Steigung auf uns. Der Asphalt wechselt sich ab mit Betonplatten, die von lustigen Klinkersteinen unterbrochen werden. Ein Tunnel folgt. Dann stehen wir schon oben auf dem mirador im stürmischen Wind und schauen hinab auf das sich ausbreitende Städtlein, welches beschaulich von Wiesen und Bergen umgeben wird. Die XI Region Chiles Aisén wurde einst von den Menschen, die aus dem Süden hinaufschifften, nach „ice end“ benannt. Wir steuern erst mal die plaza für eine Pause an. Diese, von einem Carabinieri entworfen, ist fünfeckig und erinnert an die Form des Wappens der Polizei. Der Platz ist von den örtlichen Schülern niedlich weihnachtlich geschmückt worden.
Die erste Etappe der Carretera Austral ist geschafft! Wir gönnen uns einen Ruhetag und bleiben bei Boris, unserem warmshowers-Gastgeber, in seiner kleinen Holzhütte. Gerade sind drei weitere Radler hier, die sich des Nachts den Küchenboden teilen. Wir bauen das Zelt im Vorgarten auf und verbringen zwei schöne Tage mit Boris, Mattjis, Nicolas und Mauricio. Dem einzigen Radladen weit und breit, der bicicleteria figón, statten wir natürlich einen Besuch ab. Doch können wir aufgrund von schlechter Betreuung, überhöhten Preisen und fehlender Kompetenz nur davon abraten! Aufgrund eines nicht als Ersatzteil aufzutreibenden defekten Industrielagers in meinem Freilauf entscheiden wir uns eine neue Hinterradnabe einbauen zu lassen. Der Mechaniker schafft es doch tatsächlich einen leichten Höhenschlag, keine zentrale Lage auf der Achse und zu wenig Speichenspannung einzubauen. Aus Hardys Hinterrad kriegt er nur den Seitenschlag heraus. Es gibt noch nicht einmal einen Ständer, die Räder werden einfach kopfüber auf den Boden gestellt. Zum Glück hatten wir Plastiktüten über unsere Ledersättel gezogen, sonst wären die zerkrazt. Hardy fordert Nacharbeit bei den Höhenschlägen und bekommt als Antwort des Mechanikers „ach, das sind doch nur ein paar Millimeter!“ Daraufhin geraten die Beiden in eine heftige Diskussion, bei der der Mechaniker am Ende einfach geht. Hardy trat da wohl aufs Ego… Am Ende bezahlen wir nur das Material, nicht die Arbeitszeit und verlassen gefrustet den Laden. Hardy arbeitet bestimmt noch zwei Stunden nach.
Von Coyhaique bis nach Puerto Río Tranquillo
Bis nach Cerro Castillo verbleiben uns weitere 90km schönsten Asphalts im toller Landschaft. Wir radeln im Reserva Nacional Cerro Castillo durch den Wald, vorbei an kleinen Bächen und bewundern im Hintergrund die schroffen Felswände der Berge. Besonders ist die Felsformation des Gipfels des Cerro Castillo. Nachdem wir Coyhaique verlassen haben, verändert sich die Landschaft, Weidewirtschaft und Häuser sowie Verkehr nehmen ab. Die Natur wird wilder und ursprünglicher je weiter südlich wir kommen.
Heute ist Heiligabend. In der Bäckerei bekommen wir aufgrund von fehlendem Wechselgeld das Brot geschenkt. Das erfreut uns und wir machen uns auf den Weg dem nun folgenden ca. 470km auf Schotter bis nach Villa O’Higgins entgegen. Erstmal geht es in engen Serpentinen knackig bergauf. Die Steinchen rutschen weg, das Vorderrad bricht aus. Immer weiter fahren, bloß nicht aus versehen anhalten, denn dann dreht beim Anfahren das Hinterrad durch und es muss geschoben werden.
An einer rutschigen Abfahrt breitet sich unter uns an der Laguna Verde ein Netz aus vielen kleinen Seen aus, deren Gletscherwasser eine total irre türkise Färbung hat. Abgestorbene dunkelgrüne Bäume bilden kontrastreich einen Gegenpol zum intensiven Blau und den zart gelben Blümchen am Wegesrand.
Anstrengend ist es heute. Kommen wir um eine Kurve, schlägt uns der heftige Gegenwind wie eine Wand entgegen.
Just gegenüber eines Aussichtspunktes am „Wald der toten Bäume“ finden wir auf einem Hügel zwischen Büschen einen halbwegs geschützten Platz für die Nacht. Das Zelt steht, drinnen fallen wir genüsslich über unser süßes Weihnachtsmahl her. Kurz vor dem Schlafengehen kommt noch einmal die Abendsonne hervor. Der Blick auf den angeleuchteten Berghang, die Baumstämme, die da wie Streichhölzer im Flussbett voller Asche stehen ist schon gewaltig. Ein Vulkanausbruch vor wenigen Jahren zerstörte den Wald und leitete den Fluss um.
Am Folgetag erreichen wir nach vielem Hoch und Runter den großen See General Carrera, eine gigantische Wasserfläche, die in der Sonne unbeschreiblich türkis leuchtet. Die tieferen Wasserstellen heben sich vom türkis in dunkelblau ab. Der Wind bläst auch heute sturmartig. Glücklicherweise finden wir eine mal nicht eingezäunte Stelle gleich am See. In einer Kuhle hinter Büschen gleich am Wasser bauen wir unser Nachtlager auf. Eine Henne gesellt sich mit ihren Küken zu uns. Im Windschatten ist es so warm, das wir mit dem kalten Wasser des nahen Wasserfalls duschen und Haare waschen können.
Die fehlenden 15km ins kleine Puerto Río Tranquillo radeln wir in Gewitterstimmung unter dunklen Wolken im Schneckentempo, denn nach wie vor werden wir von heftigen Windböen erfasst. Hier machen wir in einer kleinen hospedaje einen halben Ruhetag. Nach und nach trudeln mehr Radler ein. Auch die drei Jungs, mit denen wir bei Boris in Coyhaique zusammen gewohnt hatten, kommen in unsere Pension. Drinnen am Ofen ist es gemütlich und warm, draußen können wir beobachten wie sich die Bäume im anhaltenden, windigen Nieselregen nur so biegen.
Am nächsten Morgen weht es etwas weniger. Hardy, Mattjis, Mauricio und Nicolas unternehmen eine Bootstour zu den nahen capillas de marmól. Hier haben die Wellen des Lago General Carrera schöne Höhlen und Ausbuchtungen in die Uferwände aus fein gestreiften Marmor gewaschen.
Endspurt nach Villa O’Higgins
Gegen Mittag brechen wir auf. Das Wetter zieht all seine Register: Rückenwind dreht in Gegenwind, Sonne wechselt sich mit Nieselregen ab. Es geht am Ufer des Sees General Carrera weiter knackig hinauf und hinab. Dann folgt mal eine Gerade mit festem Belag, auf der wir Geschwindigkeiten von bis zu 20km/h erreichen! Am Tagesende kämpfen wir uns wieder mühsam hinauf, auf Steilhängen um die Lago Negro herum und bauen das Zelt in einem sonnigen Moment mit fast keinem Niesel am Ufer des ruhigen Sees Bertrand auf.
Nachdem wir die kleine Stadt Cochrane passiert haben, wird die Natur ursprünglicher. Die Distanzen zwischen den seltenen Siedlungen nehmen zu.
Auf einen Wanderweg radeln wir zum Zusammenfluss des türkis leuchtenden Río Baker und weiß milchigen Río Neff. Gigantische Wassermassen stoßen in einer großen Welle aufeinander. Toll!
In den folgenden Tagen lautet die immer wiederkehrende Frage: Muss es denn heute schon wieder regnen? – Ja, das muss es. Wir sind jetzt im Regenwald und im Regenwald, da regnet’s halt! Nachdem wir einst den Fehler gemacht haben, die Regenklamotten zu spät anzuziehen und völlig kalt und durchnässt sind, ist es daraufhin ein dauerndes Wechselspiel von an-aus, an-aus, denn auf Regen folgt Sonnenschein, der sich mit Nieselregen und Hagel abwechselt. Dieses blöde Mistwetter verwehrt uns Aussichten auf die Gipfel des Eisfeldes Hielo de Norte direkt neben uns.
Als wir mitten im Nirgendwo uns auf drei aufeinander folgenden Pässen hoch und runter arbeiten sehen wir zum ersten Mal Guanacos, die größeren Vertreter der Alpakas. Kurz darauf kommt aus dem Nichts ein netter Hund angelaufen. Nachdem er gejault und uns damit anscheinend verklickert hat, das er nicht mehr allein sein möchte, rennt er die folgenden 2,5 Tage, ganze 150km mit uns mit! Es dauert etwas, aber dann macht es klick und wir stellen fest, dass er ja eine sie ist. Aus Paco wird Paca. Wir geben Reis und Brot ab, müssen sie aber leider am Fähranleger, als wir bei Puerto Yungay nach Río Bravo übersetzen, stehen lassen. Das ist für alle Beteiligten traurig.
Heute ist auch Silvester. Es hat ordentlich geschüttet und wir frösteln. Die Fährcrew bietet uns an drüben zu bleiben, sie grillen bereits on Board auf offenen Feuer ein halbe Kuh, aber wir möchten morgen früh fix weiter fahren, so dass wir das Gewässer kreuzen. Am anderen Ende des Fjordes in Río Bravo erwartet uns ein tolles, modernes Holzhaus alias refugio oder auch Wartehalle. Super, denn wir haben so einiges zu trocknen. Es gibt sogar ein Bad mit fließendem Wasser. Das Beste sind jedoch die Panoramafenster auf den Fjord hinaus! Unter ihnen breiten wir unser Nachtlager aus und schlafen gemütlich im Trockenen und ohne Wind ins neue Jahr hinein.
An Hardys 30. Geburtstag kommt wenigstens ein paar Mal die Sonne raus, das hebt die Stimmung! Bei immer mal wiederkehrendem Regen und Hagel holpern wir voran durch dichten, schief gewachsenen, bemoosten Wald auf der vorletzten Etappe in Richtung Villa O’Higgins, bis wir ein altes, verfallenes refugio erreichen. Wir zelten dann lieber hinter der Hütte. Obwohl das Wetter so scheiße ist, genießen wir es aus vollen Zügen hier zu sein! Gigantisch ist der Regenwald und kurze Momente höchsten Glücks kommen auf, wenn dann doch mal kurz ein Stück Berg, manchmal sogar mit Schnee drauf zwischen den Wolken hervorlugt. Dann kann endlich der schöne Teil des Tages beginnen: Es gibt Kuchen und Geschenke, einen Mate-Becher, aus dem Hardy von nun an gemütlich am Tagesende schlürft.
Ein regenreicher Endspurt mit ein bisschen Sonne über zwei Pässe, entlang verworrener Bäume, rauschender Wasserfälle, vieler glucksender Bäche und gewaltigen Seen bringt uns immer näher heran an unseren Endpunkt auf der Carretara Austral, das Dorf Villa O’Higgins. Als wir um eine der letzten Kurven biegen, stehen da plötzlich zwei Huemules vor uns. Die gar nicht scheuen Rehe schauen uns lange an, bevor sie gemächlich den Hang hinauf stolzieren. Toll!
Villa O’Higgins
Der kleine Ort besteht aus einer Hand voll windschiefer, alter Holzhäuser und ein paar kleinen Läden. Hinzu kommen all die Unterkünfte für Touristen. Wir quartieren uns im netten El Mosco ein, einem Campingplatz und Hostal, in das seit Jahren viele Reiseradler einkehren, wie wir an den Stickern der Radler an den Kühlschränken sehen können. Wir entdecken Namen alter Bekannter wieder, nur sind die alle vor uns hier eingetrudelt. Ein Tag Pause in der warmen Küche tut uns gut, denn die Carretera Austral hat Kräfte gekostet. Wie schon zu Beginn unserer Reise damals in Nordamerika hören wir auch hier, dass dieser Sommer besonders regenreich sein soll. Wir sind sehr froh die tolle Strecke dennoch geradelt zu sein, auch wenn das Wetter gewöhnungsbedürftig war. Gerne hätten wir mehr Zeit gehabt.
Über zwei Seen zurück nach Argentinien
Auch wenn der folgende Abschnitt geographisch nicht mehr zur Carratera Austral zu zählen ist, gehört er dennoch für uns mit zum Abschluss dieses Abenteuers. Die Carretera Austral hört just am Ufer des Sees Villa O’Higgins auf. Autofahrer drehen hier um, um weiter nördlich über Chile Chico nach Argentinien zu kreuzen und dann wieder nach Süden auf der Ruta 40 zu fahren. Wir nicht. Am kleinen Steg tragen wir zusammen mit unseren drei mallorquinischen Kurzzeitradler-Freunden und dem Wanderer sowie Kajakfahrer Forrest unsere Fahrräder und das Gepäck an Board eines kleinen Schiffes, um mit diesem überteuertem, schicken Boot, welches eine Rundtour für Touristen zum nahen Gletscher anbietet, mitgenommen und am anderen Ende des Sees rausgeworfen zu werden. Wir haben Glück, denn momentan fährt es. Dies scheint von Motorenproblemen und Wetterverhältnissen abhängig und sehr unzuverlässig zu sein. Die große Fahrt beginnt. Wie soll es auch anders sein, natürlich ist es mal wieder bewölkt heute. Der Wind pfeift, die Gischt spritzt, die uns umgebenden Berge sind irre!
Als wir drüben in Candelario Manzanilla ankommen, lugt die Sonne für einen kurzen Moment hervor, sogleich verfärbt sich das Wasser des Sees türkis! Für uns steht eine 22km lange Fahrrad-schiebe-zerr- und Trageaktion an, hinüber zum folgenden See Lago de Desierto. Eigentlich wollen wir schummeln, denn gestern hat sich Hardy beim Anheben einer 1kg (!) schweren Mehlpackung verhoben und sehr starke Schmerzen. Jedoch funktioniert der Motor des Autos nicht, welches normalerweise für den Transport der Touris eingesetzt wird. Es hilft nichts, eine weitere Schmerztablette wird eingeworfen und los geht’s. Die Hälfte der Strecke just bis zur argentinischen Grenzlinie kann man durchaus noch als Straße bezeichnen. Schotter und Steigungen erschweren uns das Vorankommen.
Nach dem Grenzschild Argentiniens wird es arg, denn die Piste verwandelt sich in einen schmalen Wanderweg, der über Stock und Stein, Baumstämme, zerstörte Brücken, durch Bäche und Schlammfelder führt. Das Gewicht sowie die Vorderradtaschen unserer Fahrräder machen sich negativ bemerkbar. Die Spanier, mit ihren leichten Packtaschen, sind uns klar im Vorteil. Über Stunden zieht sich diese „Wanderung“ hin, bis wir endlich den Lago de Desierto unter uns sehen und beim argentinischen Grenzposten angekommen sind. Die Zelte der Anderen stehen bereits. Es ist nach 18h, unsere nassen Füße sind super kalt. Es windet. Gerade, als wir unser Nachtlager aufbauen wollen, sehen wir sich in der Ferne ein Boot nähern. Wir halten inne und wollen versuchen uns jetzt schon mit ans andere Ende mitnehmen zu lassen. Bereits in Villa O’Higgins haben Tickets für eine Bootsfahrt gekauft, da wir fälschlicherweise gehört hatten, es verkehre nur eine Firma. Deren großes Boot sollte mal wieder kaputt sein, so dass nur ein kleines mit wenigen Plätzen eingesetzt würde. Für dieses Boot hatten wir leider erst Tickets in 1 ½ Tagen bekommen und uns auf eine Wartezeit eingestellt. Eine Alternative, die es aber insbesondere nach dem Tag heute zu vermeiden gilt, wäre eine weitere heftige Radtrageaktion in 20 Stunden um den See herum. Dieser Wanderweg soll aber bei weitem in noch schlechteren Konditionen sein!
Wir haben großes Glück, denn es kommt das Huemul angefahren, das große Boot unserer Firma, die Crew macht gerade Testfahrten. Mit vielen Scherzen quatschen wir uns on Board und können es nicht fassen, als wir kurz darauf in den weichen Sitzen windgeschützt drinnen sitzen und Gletscher an uns vorbeiziehen sehen! Nach 20 Uhr kommen wir am Südende des Sees an und sind einfach nur noch fertig. „Ist mir egal was das kostet, ich will auf den nahen Campingplatz, ich will auf der Stelle Schluss für heute machen!“, mault Hardy. Im Windschutz zwischen Bäumen, geduscht und mit fertigem Essen begrüßen wir erstaunt Forrest. Der amerikanische Wanderer ist weiter gelaufen, um den Lago de Desierto herum, bis er sein aufblasbares Kajak im Fluss einsetzen und herpaddeln konnte. Vergnügt und müde lassen wir uns zu dritt Nudeln mit Brot schmecken und den neuen Mate-Becher kreisen.
Wie im Fluge ist diese Etappe vergangen. Das ist die chilenische Seite Patagoniens gewesen. Es erwartet uns die karge und windige Pampa Argentiniens. Wir sind gespannt!
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